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Gesicht des Mordes
Blake Pierce


Ein Zoe Prime Fall #2
“EIN MEISTERWERK DES THRILLER UND KRIMI-GENRES. Blake Pierce gelingt es hervorragend, Charaktere mit so gut beschriebenen psychologischen Facetten zu entwickeln, dass wir das Gefühl habe, in ihren Gedanken zu sein, ihre Ängste zu spüren und ihre Erfolge zu bejubeln. Dieses Buch voller Wendungen wird Sie bis zur letzten Seite wachhalten.“

–Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über Verschwunden)



GESICHT DES MORDES ist das zweite Buch einer neuen FBI Thrillerserie des USA Today Bestsellerautors Blake Price, dessen Nummer 1 Bestseller VERSCHWUNDEN (Buch 1) (kostenloser Download) Гјber 1.000 FГјnfsternebewertungen erhalten hat.



FBI Special Agent Zoe Price leidet an einer seltsamen Störung, die ihr aber auch ein einzigartiges Talent verleiht – sie betrachtet die Welt durch einen Filter aus Zahlen. Die Zahlen quälen sie, machen es ihr unmöglich, Zugang zu andern Menschen zu finden, verhindern ein erfolgreiches Beziehungsleben – sie ermöglichen ihr aber auch, Muster zu sehen, die kein anderer FBI Agent sehen kann. Zoe verheimlicht ihr Leiden aus Scham, hat Angst, dass ihre Kollegen es herausfinden könnten.



Als Frauen außerhalb von Washington D.C. ermordet aufgefunden werden, ihre Körper mit seltsamen Zahlen gebrandmarkt, ruft das ratlose FBI Special Agent Zoe Prime zur Hilfe, um das mathematische Rätsel zu lösen und den Serienmörder zu finden.



Die Zahlen aber ergeben keinen Sinn. Bilden sie ein Muster? Eine Formel?



Oder haben sie gar keine Bedeutung?



Zoe, die mit ihren eigenen privaten Problemen zu kämpfen hat, läuft die Zeit davon, während immer mehr Leichen auftauchen und alle Hoffnungen auf ihr liegen, eine Gleichung zu lösen, die vielleicht gar nicht gelöst werden kann. Wird sie den Mörder rechtzeitig schnappen?



Gesicht des Mordes, Buch 2 einer fesselnden neuen Serie, ist ein actionreicher Thriller voller mitreißender Spannung, der Sie bis spät in die Nacht an den Seiten kleben lassen wird.



>Buch 3 der Serie – GESICHT DER ANGST – ist ebenfalls vorbestellbar.





Blake Pierce

GESICHT DES MORDES




G E S I C H T


D E S


M O R D E S




(Ein Zoe Prime Fall—Buch Zwei)




B L A K EВ В  P I E R C E



Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestseller-Autor der RILEY PAGE Mystery-Serie, die sechzehn BГјcher (und es werden noch mehr) umfasst. Blake Pierce ist auch der Autor der Mystery-Serie MACKENZIE WHITE, die dreizehn BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der Mystery-Serie AVERY BLACK, die sechs BГјcher umfasst; der Mystery-Serie KERI LOCKE, die fГјnf BГјcher umfasst; der Mystery-Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, die fГјnf BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der Mystery-Serie KATE WISE, die sechs BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der psychologischen Krimireihe CHLOE FINE, die fГјnf BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der psychologischen Krimireihe JESSE HUNT, die fГјnf BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der psychologischen Krimireihe AU PAIR, die zwei BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der Krimireihe ZOE PRIME, die zwei BГјcher umfasst (Tendenz steigend); und der neuen Krimireihe ADELE SHARP.



Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt es Blake, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com/), um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.








Copyright © 2020 von Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Acts von 1976 darf kein Teil dieser Veröffentlichung ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen, in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden.  Dieses eBook ist ausschließlich für Ihre persönliche Nutzung lizensiert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer weiteren Person teilen möchten, erwerben Sie bitte eine zusätzliche Ausgabe für jeden Empfänger. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht erworben haben, oder es nicht ausschließlich für Ihren Gebrauch erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Ihre eigene Ausgabe. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Es handelt sich hier um eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle beruhen entweder auf der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebend oder tot, ist völlig zufällig. Titelbild Copyright Tavarius, verwendet mit Lizenz von Shuitterstock.com.



BГњCHER VON BLAKE PIERCE

ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Buch #1)

NICHTS ALS RENNEN (Buch #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Buch #3)



DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORГњBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)



ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)



JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LГ„CHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LГњGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LГњGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETГ–NTE FENSTER (Band #6)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Band #1)

WENN SIE SГ„HE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Band #5)

WENN SIE FГњRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HГ–RTE (Band #7)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TГ–TET (Band #6)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ГњBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)



EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELГ–ST



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FГњHLT (Band #6)

EHE ER SГњNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLГњNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFГ„LLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRГњNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




PROLOG


Professor Ralph Henderson seufzte, rieb sich die Nasenwurzel und suchte in seiner Manteltasche nach seinen AutoschlГјsseln. Er hatte einen langen Abend damit verbracht, Englischarbeiten zu benoten und entweder wurden seine Studenten dГјmmer oder er wurde des Jobs ГјberdrГјssiger. Ihm war sehr danach, sich mit einem kleinen Glas Whisky und einem Klassiker fГјr die Nacht ins Bett zurГјckzuziehen.

Die Tiefgarage von Georgetown war fast leer, die meisten anderen Fakultätsmitglieder waren vernünftig genug gewesen, schon längst nach Hause zu fahren. Es war kalt und trostlos, die Leuchtröhren an der Decke flackerten, während Motten selbstmörderisch gegen sie flogen. Henderson ging quer über die leeren Parkbuchten, nahm eine Abkürzung zu seinem Auto. Er überlegte kurz, ob er irgendwo anhalten und sich einen Kaffee zum Mitnehmen holen sollte. Oder wäre es besser, einfach so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, in die Sicherheit und Wärme seines eigenen Reichs?

Seine Schritte hallten in der Tiefgarage unheimlich wider, die Geräusche echoten zwischen Betondecke und Betonboden. Es war an Abenden wie diesem, dass die Tiefgarage sich in ein ganz anderes Wesen verwandelte. Ein Ort, an dem unangenehme Typen in den Schatten lauern könnten, bereit zum Angriff. Man konnte diese Art von Gedanken nicht abschütteln, auch wenn man sich wiederholt sagte, dass man erwachsen war und sich nicht mehr vor der Dunkelheit fürchten musste.

Allerdings gab es einen guten Grund, heute Abend nervös zu sein. Der Campus war durch Nachrichten von einem Mord, der hier, direkt unter ihrer Nase passiert war, in Unruhe versetzt worden. Ein Student, den Henderson gekannt hatte. Vielleicht war das der Grund, dass ihm die Haare im Nacken hochstanden, als er durch die Garage ging und warum er nicht anders konnte, als verstohlene Blicke mit großen Augen in die Schatten zu werfen, um zu sehen, ob jemand sich dort versteckte.

Er versuchte, sich abzulenken. Es gab mehr, über das er nachdenken konnte. Da war ein Bursche gewesen, den er aus der Klasse hatte werfen müssen, weil er eine weitere Arbeit nicht abgegeben hatte. Das Lehren war so frustrierend – zu sehen, wie diese jungen Leute voller Potential sich nur um Partys kümmerten und ihr Studium nicht ernst nahmen. Es hatte Henderson leid getan, ihn durchfallen zu lassen, aber er fühlte sich jetzt eher gerechtfertigt, nachdem er eine Mail des Studenten erhalten hatte.

Die E-Mail war giftig, fast bedrohlich. Anscheinend hielt der Bursche nichts davon, rausgeworfen zu werden und wollte sicherstellen, dass Henderson es wusste. Als ob eine solche Handlung ihn irgendwie wieder in den Kurs bringen könnte. Ha! Der Bursche musste noch viel über das Leben lernen und darüber, wie Leute darauf reagierten, wie man sie behandelte.

Henderson erreichte das Auto und hantierte mit den Schlüsseln, seine Finger waren dick und langsam, da er beim Benoten der Studenten so viele Kommentare geschrieben hatte. Er verfluchte sich selbst, das Zittern, das seine Hände überkam, verursacht durch die Einsamkeit der nächtlichen Tiefgarage. Er war albern. Herrje, er war ein erwachsener Mann und war bei Tag ohne einen Gedanken durch diese Garage gegangen.

Sowieso, dachte er düster, wenn jemand es auf ihn abgesehen hatte, dann wäre es dieser wütende Student. Und er war nicht intelligent genug, um einem Professor im Dunkeln einer Tiefgarage aufzulauern. Er war die Art junger Mensch, die wütende Emails schickte und Spuren hinterließ. Wirklich nichts, worüber er sich Sorgen machten musste. Henderson würde es morgen dem Dekan melden und damit wär die Sache erledigt.

Was war das für ein Geräusch? Schritte? Irgendetwas stimmte hier nicht. Er hatte die ganze Zeit seine Ängste abgetan, aber jetzt war er sich weniger sicher. Das prickelnde Gefühl in Hendersons Nacken verstärkte sich, wie eine Vorahnung, denn bevor er sich umdrehen konnte, knallte sein Kopf mit einem scharfen Geräusch gegen das Autofenster.

Henderson hatte kaum Zeit, das Geschehene und die durch seine Nase flutenden Schmerzen zu begreifen, als die Hand auf seinem Hinterkopf ihn bereits erneut gegen die Seite des Autos knallte. Er rutschte tiefer, durch den Schock und die Verletzung niedergedrückt, sein Körper wurde schlaff. Er versuchte, sich ein wenig wegzudrehen, sein Aktenkoffer lag vergessen auf dem Boden, aber er konnte den nächsten Schlag nicht abwehren und auch nicht den danach. Immer und immer wieder knallte sein Kopf gegen das rote Chassis, seine Schläfe, der obere Rand einer Augenhöhle, sein Kiefer direkt unter dem Ohr.

Er spürte die Auswirkungen mit einer Art unbeteiligtem Schock. Das Knacken eines brechenden Knochens. Der Gedanke an auf seinem Gesicht erscheinende Blutergüsse, dann an Schnitte und Abschürfungen, dann an etwas Ernsteres. Alles, woran er blöde denken konnte, war, dass sein Gesicht entstellt sein würde. Alles, wofür er an Gedanken Zeit hatte, bevor es anscheinend vorbei war.

Die Hand, die ihn ergriffen hatte, ließ ihn los und Henderson sank ohne Umschweife auf den Boden, stieß auf seinem Weg nach unten gegen eine Schulter. Angesichts alles anderem spürte er es kaum. Er war nun genügend vom Auto weggedreht, um benommen seinen Kopf zu wenden und sich umzusehen, obwohl sein Blick verschwommen war. Vielleicht von den Schlägen. Vielleicht von dem Blut, das in seine Augen tropfte. Vielleicht, weil seine Augenhöhle mindestens gebrochen sein musste.

Wer war das? Eine vage Gestalt, nur ein Flüstern, als ob ein Geist über ihm stünde, nicht ein Mann. Aber es war ein Mann. Es musste ein Mann sein. Wenn er nur erkennen könnte, wer es war – aber Hendersons Bewusstsein strömte aus ihm hinaus wie Sand durch seine Finger und er konnte nicht mehr. Irgendwas floss aus ihm, ließ ihn kalt und leer zurück. Er wusste, dass es fast vorbei war. Die Welt um ihn herum wurde schwarz, die wässrige Gestalt über ihm sah schweigend zu.

Der Schatten erstreckte sich Гјber ihn und hob ein letztes Mal seinen Kopf und schlug diesen gegen den Beton, eine Einwirkung, die Henderson kaum bemerkte, bevor er kopfГјber in die Dunkelheit fiel.

Der Job war erledigt.

Er wГјrde nicht wieder aufwachen.




KAPITEL EINS


Zoe strich die Risse auf der Lehne des Ledersessels nach, sah, wie ihr Muster eine Geschichte des Alterns offenbarte, von so vielen Händen und Armen, die auf genau dieser Stelle gelegen hatten. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob das beruhigend war, ein Zeichen der Erfahrung oder einfach eklig. Wer wusste schon, welche Art Bakterien sich in diesem Bezug verbargen?

„Zoe?“ ermunterte Dr. Lauren Monk sie, von einem ähnlich bequemen Sessel ihr gegenüber.

Zoe sah schuldbewusst hoch. „Entschuldigung, hätte ich das beantworten sollen?“

Dr. Monk seufzte, tippte mit ihrem Kugelschreiber gegen den Block in ihrer Hand. Trotz des Rekorders auf dem Schreibtisch, der all ihre Sitzungen aufnahm, schien es, als ob Dr. Monk immer noch ein Fan traditioneller Methoden war. „Ändern wir für einen Augenblick den Kurs“, sagte sie. „Wir hatten nun schon einige gemeinsame Sitzungen, Zoe, nicht wahr? Ich bemerke, dass Sie ab und zu Probleme mit sozialen Hinweisen haben.“

Ah. Das. Zoe zuckte mit den Schultern, versuchte, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. „Ich verstehe nicht immer die Arten, auf die Menschen zu reagieren scheinen.“

„Oder die Arten, auf die sie erwarten, dass Sie reagieren sollen?“

Zoe zuckte erneut mit den Schultern, ihr Blick wanderte zum Fenster. Dann gab sie sich eine mentale Ohrfeige, sie sollte aktiv an diesen Sitzungen teilnehmen, sich nicht wie ein launischer Teenager benehmen. „Meine Logik unterscheidet sich von ihrer Logik.“

„Warum ist das Ihrer Meinung nach so?“

Zoe wusste, warum sie so war, wie sie war, oder dachte zumindest, dass sie es wusste. Die Zahlen. Die Zahlen, die überall waren, wo sie hinsah, jede Sekunde des Tages. Sie sagten ihr sogar jetzt, welche Brillenstärke Dr. Monk trug (kaum stark genug, um eine Sehhilfe nötig zu machen), dass ein halber Millimeter Staub auf den Rahmen der Diplome an der Wand war, aber nur ein Viertelmillimeter auf dem Psychologiediplom (was auf größeren Stolz über dieses im Vergleich zu ihren anderen Abschlüssen hinwies) und dass Dr. Monk während ihrer bisherigen Unterhaltung genau sieben Worte aufgeschrieben hatte.

Sie wollte es sagen, zumindest wollten Teile von ihr das. Sie hatte Dr. Monk gegenüber immer noch nicht zugegeben, dass sie über eine Fähigkeit verfügte, die niemand sonst zu haben schien. Niemand sonst abgesehen von dem gelegentlichen Serienmörder, wenn man nach dem Fall gehen konnte, den sie vor etwa einem Monat bearbeitet hatte.

Aber da war ein anderer Teil von ihr, der stärkere Teil, der nicht ertragen konnte, überhaupt irgendetwas zuzugeben.

„Ich wurde einfach so geboren“, sagte Zoe.

Dr. Monk nickte, schrieb aber nichts auf. Anscheinend war diese Antwort nicht relevant genug. „Wie fühlt es sich an, wen Sie diese sozialen Hinweise übersehen? Stört es Sie?“

Vielleicht lag es daran, dass sie mittlerweile genug Sitzungen gemeinsam verbracht hatten, um die anfängliche Unbehaglichkeit schwinden zu lassen. Vielleicht war es einfach die Freiheit, mit jemandem zu reden, mit dem sie keine wirkliche berufliche oder persönliche Verbindung hatte. Wie auch immer, Zoes Mund stieß ohne ihre bewusste Erlaubnis eine Wahrheit hervor, die ihr Gehirn bisher verborgen hatte. „Shelley findet es so einfach.“

Zoe verfluchte sich umgehend selbst. Was war das fГјr eine Aussage? Jetzt wГјrden sie den Rest der Sitzung damit verbringen, diese Eifersucht, die sie gegenГјber Shelley fГјhlte, zu analysieren, anstatt an den wirklichen Problemen zu arbeiten. Bis zu diesem Moment hatte sie sich noch nicht einmal selbst wirklich eingestanden, dass die Eifersucht da war.

„Agent Shelley Rose“, sagte Dr. Monk, zog ihre Notizen von einem vorherigen Nachmittag in ihrem Büro zurate. „Sie haben zu einem früheren Zeitpunkt angedeutet, dass Sie sich mit ihr wohler fühlen, als mit Ihren früheren Partnern. Aber Sie fühlen ihr gegenüber Eifersucht. Können Sie das erläutern?“

Zoe holte Luft. Natürlich konnte sie das, aber sie wollte nicht. Zögerlich betrachtete sie ihre eigenen Finger, hielt es für das Beste, es einfach hinter sich zu bringen. „Shelley kann mit Leuten umgehen. Sie kann sie davon überzeugen, Dinge zuzugeben. Und sie mögen sie. Nicht nur Verdächtige. Alle.“

„Haben Sie das Gefühl, dass Leute Sie nicht mögen, Zoe?“

Zoe rutschte unbehaglich in ihrem Sessel herum. Das hier war alles ihre Schuld. Sie hätte so etwas nicht sagen sollen. Eine Schwäche zuzugeben, war eine Einladung, dass jemand darin herumwühlte. Deshalb hatte sie die Zahlen noch nicht erwähnt. Selbst wenn diese Therapeutin von Dr. Applewhite, ihrer vertrautesten Freundin und ihrer Mentorin, empfohlen worden war, bedeutete das nicht, dass Zoe ihr ihre tiefsten und dunkelsten Geheimnisse anvertrauen konnte. „Ich habe nicht viele Freunde. Partner beantragen normalerweise eine Versetzung weg von mir“, gab sie stattdessen zu.

„Glauben Sie, dass das mit Ihren Schwierigkeiten mit sozialen Hinweisen zu tun hat?“

Die Frau stellte eine offensichtliche Frage. „Das, und andere Dinge.“

„Welche Dinge?“

Die offensichtliche Frage. Zoe stöhnte innerlich. Sie hatte sich selbst in diese Falle manövriert. „Meine Arbeit ist schwierig. Ich bin oft weg. Es gibt kaum Zeit, Wurzeln zu schlagen.“

Dr. Monk nickte nachdenklich. Sie lächelte ermutigend, als ob Zoe wirklich Fortschritte machte. Der Teil von ihr, der sich nach positiver Aufmerksamkeit und Zuwendung sehnte, die sie von ihrer Mutter nie erhalten hatte, war darüber begeistert, obwohl sie es nicht sein wollte. Bis jetzt diente die Therapie nur dazu, all ihre Fehler herauszustellen. „Was ist mit Shelley? Hat sie Wurzeln?“

Zoe nickte, schluckte einen unwillkommenen Kloß herunter. „Sie hat einen Ehemann und eine kleine Tochter, Amelia. Sie redet viel über sie.“

Dr. Monk hielt ihren Stift an ihre Lippen, tippte dreimal bedeutungsvoll damit an ihren Mund. „Sie möchten eine eigene Familie.“

Zoe sah abrupt hoch, erinnerte sich dann daran, dass sie nicht überrascht sein sollte, dass eine Therapeutin hinter allem Gesagten die wahrsten Gedanken erkennen konnte. „Ja“, sagte sie schlicht. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. „Aber davon bin ich sehr weit entfernt.“

„Als wir uns zu unserer ersten Sitzung trafen, sagten Sie mir, dass Sie auf einer Verabredung waren.“ Zoe sah, dass Dr. Monk ihre Notizen dafür nicht überprüfen müsste. „Er hat sich bei Ihnen gemeldet, nicht wahr? Haben Sie geantwortet?“

Zoe schüttelte verneinend den Kopf. „Er schickte mir einige E-Mails und versuchte, anzurufen. Ich hab nicht reagiert.“

„Warum?“

Zoe zuckte mit den Schultern. Sie konnte es nicht genau sagen. Sie hob verlegen die Hand, um ein paar Strähnen ihres braunen Haars zu berühren, welches sie eher aus Bequemlichkeit denn aus Modebewusstsein kurzgeschnitten hielt. Es gab an ihr einige Dinge, die vielleicht nicht gängig attraktiv waren und sie wusste das, auch wenn sie nicht genau verstand, wie andere Leute sie sahen. „Vielleicht, weil die erste Verabredung nicht so gut verlief. Ich war zu abgelenkt. Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, was er sagte. Ich war langweilig.“

„Aber er dachte das nicht, oder? Dieser … ?“

„John.“

„Dieser John, er scheint interessiert. Er versucht immer wieder, mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Das ist ein gutes Zeihen.“

Zoe nickte. Es gab nichts, was sie noch dazu sagen konnte. Dr. Monk hatte recht, auch wenn sie es hasste, das zuzugeben.

„Lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich sehe“, fuhr Dr. Monk fort. „Sie haben mir gesagt, dass Shelley das Leben führt, das Sie auch gerne hätten. Sie ist glücklich verheiratet und hat ein Kind, macht sich in ihrer Karriere gut, hat Fähigkeiten, die Sie nicht haben. Wir werden immer eifersüchtig auf jene sein, die Dinge tun können, die wir nicht können. Das ist die menschliche Natur. Es ist wichtig, sich nicht davon auffressen zu lassen, sondern sich auf die Dinge zu konzentrieren, die man erreichen kann.“

Sie wartete darauf, dass Zoe erneut nickte, ein Zeichen gab, dass sie zuhörte, bevor sie fortfuhr.

„Dinge passieren nicht von alleine. Oder, um es anders zu sagen, es ist unwahrscheinlich, dass Sie je heiraten werden, wenn Sie nie auf Verabredungen gehen. Mein Rat an Sie ist, John anzurufen und auf diese zweite Verabredung zu gehen. Vielleicht wird es nicht so toll. Vielleicht wird es klasse. Sie können es nur rausfinden, indem Sie es ausprobieren.“

„Sie denken, dass ich John heiraten soll?“ Zoe runzelte die Stirn.

„Ich denke, dass Sie sich mit ihm verabreden sollten.“ Dr. Monk lächelte. „Und wenn es mit ihm nicht klappt, dann denke ich, dass Sie sich mit jemand anderem verabreden sollten. So arbeitet man auf seine Ziele hin. Ein Schritt nach dem anderen.“

Zoe war nicht gänzlich überzeugt, nickte aber trotzdem. Außerdem hatte sie jetzt etwas Wichtiges zu erledigen. „Ich denke, unsere Zeit ist für heute um.“

Dr. Monk lachte. „Das ist mein Satz“, sagte sie, stand auf, um Zoe zur Tür zu bringen. „Und denken Sie nicht, dass ich mich so leicht ablenken lasse. In der nächsten Sitzung kommen wir zurück zum Thema der sozialen Hinweise und reden darüber, wie man Dinge anders sieht als andere. Wir werden der Sache auf den Grund gehen, auch wenn Sie nicht bereit sind, völlig ehrlich mit mir zu sein.“

Zoe sah der Therapeutin beim Verlassen des BГјros nicht in die Augen, wollte nicht zeigen, wie sehr sie hoffte, dass Dr. Monk es vergessen wГјrde.




KAPITEL ZWEI


Wenigstens dem Mittagessen konnte Zoe freudig entgegensehen. Es war lange her, dass sie ihre Mentorin persönlich hatte treffen können und sie hatte sich darauf gefreut. Das Wissen, dass etwas Schönes sie erwartete, hatte ausgereicht, um sie durch die Therapiesetzung zu bringen.

Dr. Francesca Applewhite, eine Mathematikprofessorin, die an Zoes College gelehrt hatte, war eine der besten Personen gewesen, denen Zoe in ihrem Leben je begegnet war. Damals, noch ein Teenager und mit der geselligen Atmosphäre im Studentenwohnheim überfordert, hatte es sie skeptisch gemacht, dass sie mit einer weiteren Expertin reden sollte. Aber es hatte sich herausgestellt, dass die Professorin sie völlig verstand – sah, dass sie eine besondere Gabe hatte; etwas, das gefördert werden musste. Sie hatten mit privatem Einzelunterricht angefangen, welcher ihre Fähigkeit auf die nächste akademische Stufe heben sollte. Alles andere hatte sich von da aus entwickelt.

„Doktor“, begrüßte Zoe sie, als sie ihren Tisch erreichte und sich auf den freien Stuhl fallen ließ. Dr. Applewhite war zweifellos schon einige Zeit dort, wenn man von der halbleeren Kaffeetasse und dem zerlesenen Taschenbuch in ihren Händen ausging. Zoe fiel auf, dass die grauen Strähnen allmählich die Überhand in ihrem einst dunklen Haar gewannen, ein starker Gegensatz zu ihrer Erinnerung an die Professorin bei ihrer ersten Begegnung.

Dr. Applewhite schob ein Lesezeichen zwischen die Seiten, legte das Buch hin und lächelte, als sie aufsah. „Meine Lieblingsabsolventin. Wie behandelt das FBI dich?“

Sie hatte guten Grund für diese Frage. Es war immerhin auf ihren Vorschlag hin geschehen, dass Zoe eine Karriere in der Strafverfolgung eingeschlagen hatte. Nachdem ihr Kollege, einer von Zoes Mathematiklehrern, sie kontaktiert hatte, hatte sich Zoes ganzes Leben geändert. Sie wusste genau, wem sie das zu verdanken hatte.

„Gut. Mit meiner neuen Partnerin komme ich zurecht“, sagte Zoe. Sie nahm ihre Speisekarte, um die Gerichte durchzusehen, auch wenn es kaum nötig war. Sie wusste schon, was sie bestellen wollte. Ein rascher Blick auf die Länge der Spalten und Zeilen zeigte ihr, dass nichts Neues hinzugefügt worden war, und sie trafen sich immer zum Mittagessen hier.

Dr. Applewhite lehnte sich vor, um einen Kellner auf sich aufmerksam zu machen, und während die Professorin ihm zusah, wie er hinüberkam, betrachtete Zoe stattdessen sie. Sie erinnerte sich an jene erste Begegnung. Wie Dr. Applewhite echtes Interesse an dem gezeigt hatte, was Zoe zu sagen gehabt hatte, einer der wenigen Menschen in ihrem Leben, der ihr tatsächlich zugehört hatte. Die ältere Frau hatte seitdem mehrere Kilo zugenommen, aber nie auch nur ein Gramm des Mitgefühls verloren, das sie einer jungen Frau gezeigt hatte, die nicht wusste, wo ihr Platz in der Welt war.

Ihre Beziehung war mit der Zeit gewachsen. Zoe brauchte lange, um ihr zu vertrauen, sie an sich heranzulassen. Aber letztlich hatte sie ein Risiko eingehen, ihr Geheimnis offenbaren müssen. Ihr von den Zahlen erzählen müssen.

Es war nicht einfach gewesen. Nach so vielen Jahren, in denen Zoes Mutter ihr gesagt hatte, dass ihre Gaben ihr vom Teufel verliehen worden waren, hatte sie oft festgestellt, dass die Worte ihr im Hals steckenblieben. Aber Dr. Applewhite war begeistert, nicht entsetzt, gewesen, von Zoes Fähigkeiten zu erfahren. Von da an war ihre Verbindung nur stärker geworden.

„Wie ist es mit Dr. Monk?“ fragte Dr. Applewhite, nachdem Zoe ihre Bestellung aufgegeben hatte. Ihre Augen funkelten schelmisch. „Sie sagte mir, dass du meiner Empfehlung gefolgt bist.“

Zoe konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Kontrollieren Sie mich?“

„Ich muss immer ein Auge auf meine Lieblinge haben“, lachte Dr. Applewhite. Es war ein ständiger Witz zwischen ihnen. Dr. Applewhite sollte natürlich keine Lieblinge haben. Aber Zoe hatte ihrer Karriere auf vielerlei Art geholfen, ebenso wie Dr. Applewhite Zoe beim Wählen ihrer Karriere unterstützt hatte. Dr. Applewhite hatte sich letztlich auf die Erforschung von Synästhesie im Hinblick auf Mathematik spezialisiert und war nun Mentorin für einige andere, die die gleichen Fähigkeiten wie Zoe hatten. Mehr oder weniger jedenfalls.

„Die Sitzungen laufen gut“, gab Zoe zu. „Dr. Monk hat einige gute Erkenntnisse. Ich kann verstehen, warum Sie sie mögen.“

„Sie hat einen ausgezeichneten Ruf. Irgendwelche Fortschritte, die du mir mitteilen kannst? Oder ist es alles zu persönlich?“

Zoe zuckte mit den Schultern, betrachtete die fünf Zentimeter Wasser am Boden der Vase auf ihrem Tisch, die nicht ausreichen würden, um die zwei Chrysanthemenstängel lange zu versorgen. Die inneren Berechnungen, wie lange es bis zum völligen Verwelken dauern würde, lenkten sie genug ab, dass sie ihre Gedanken aussprechen konnte. „Sie sagte, ich sollte auf mehr Verabredungen gehen.“

Dr. Applewhite grinste herzlich, ihr eigener Ehering funkelte im Sonnenlicht, als sie ihre Kaffeetasse an den Mund führte. „Sie könnte recht haben.“

„Ich glaube wirklich nicht, dass das die Lösung all meiner Probleme sein wird“, schnaufte Zoe, während sie die vom Kellner gebrachte frische Tasse Kaffee an den Mund führte.

„Vielleicht nicht aller, aber einiger“, sagte Dr. Applewhite, jetzt ernst. „Ich sage nicht, dass du dich dafür schlecht fühlen musst, wie du bist. Du funktionierst – noch mehr als das. Du hast es in einen Vorteil für deine Arbeit verwandelt. Andere sind nicht so leistungsfähig wie du. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Du weißt, dass ich das tue.“

Zoe nickte. „Das weiß ich zu schätzen“, sagte sie. Sie hatte begriffen, dass Dr. Applewhite alles in allem eventuell der einzige Mensch auf der Welt war, der sich tatsächlich Sorgen um sie machte. Wenigstens einen Menschen zu haben, war ein Trost.

Bevor sie den Gedanken beenden und sogar so weit gehen konnte, die Empfehlung, John anzurufen, ernst zu nehmen, klingelte ihr Handy in ihrer Tasche. Zoe holte es raus. Als sie Shelleys Namen auf dem Display sah, nahm sie den Anruf entgegen.

„Special Agent Zoe Prime.“

„Hey, Z. Ich hoffe, du machst gerade nichts Schönes.“

Zoe seufzte und sah auf ihre halb aufgegessene Mahlzeit hinunter. Sie hatte den Geschmack nicht wirklich wahrgenommen, da ihre Gedanken woanders waren. „Ich nehme an, wir haben einen Fall.“

„Ich treffe dich in dreißig Minuten im Hauptquartier. Der Chief sagt, es ist eine große Sache.“

Zoe lächelte Dr. Applewhite entschuldigend an, aber die Ärztin winkte sie schon fort. „Erfülle deine Pflicht, Agent. Aber es gibt noch eine Sache, die ich dir sagen möchte …“ Dr. Applewhite zögerte, holte Luft. Sie schien unwillig, zu reden, fuhr aber fort, sah dabei auf Zoes halbleeren Teller. „Einer der anderen in meiner Forschungsgruppe – ein anderer Synästhetiker. Wir dachten, es würde ihm besser gehen, aber … es tut mir leid, das zu sagen, aber er hat sich letzte Woche umgebracht. Er hatte außer mir niemanden, der ihn unterstützte und es somit schwer. Wir Menschen brauchen andere Menschen um uns herum, um uns emotional zu unterstützen. Alle von uns brauchen das. Auch die, die ein wenig anders denken.“

Zoe hielt inne, starrte hinunter in ihre Kaffeetasse, die ein paar Millimeter zu wenig gefüllt war, lehnte sich dann Unterstützung suchend gegen den Stuhl. Sie hatte nie Anstalten gemacht, jemanden aus Dr. Applewhites „Forschungsgruppe“ – Testobjekte nannte Zoe sie gedanklich, wenn sie in unfreundlicher Stimmung war – kennenzulernen, aber die Nachricht war trotzdem ein Schlag. Jemand wie sie, der aus dem einzigen Grund sterben wollte, dass er genauso war wie sie. Das war allerdings hart zu schlucken.

Sie hob mechanisch ihre Tasche hoch, ging weg, ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. In ihrem Kopf richtete sie ihre Gedanken neu aus. Dachte zurГјck an Dr. Monks Bemerkungen. So arbeitet man auf seine Ziele hin. Ein Schritt nach dem anderen.

Was hatte sie wirklich in ihrem Leben? Eine Mentorin, die einer Mutterfigur ähnlicher war, als jede andere Person, die sie je finden würde. Eine Partnerin – Shelley – die einer Freundin noch am ähnlichsten war. Zwei Katzen, Euler und Pythagoras – und obwohl sie sie beide liebte, wusste sie, dass es in der Natur von Katzen lag, dass es ihnen genauso gut gehen würde, wenn sie weg war und sie bei jemand anderem lebten. Eine Karriere, die öfter auf der Kippe stand als sich weiterzuentwickeln, auch wenn momentan eine der besseren Phasen war. Eine kleine Wohnung für sich.

Und eine Störung, oder eine Fähigkeit, oder wie auch immer man es nennen wollte, die sie so anders machte, dass Leute wie sie sich selbst töteten.

Es war ein ernГјchternder Gedanke.




KAPITEL DREI


Zoe ging durch die Flure des weitläufigen FBI-Hauptquartiers in Washington D.C. auf das Besprechungszimmer zu, wo Shelley warten würde. Solche Gebäude wirkten auf Zoe beruhigend: vor ausreichend langer Zeit gebaut, aber mit genug Planung und Präzision, dass man jede Etage gut einschätzen und sich dort zurechtfinden konnte.

Das J. Edgar Hoover-Gebäude war durchdacht gebaut worden. Obwohl es von außen viereckig und grau war, die Art  Architektur, die Leute als Bausünde bezeichneten, liebte Zoe genau diese blockartige geometrische Komposition. Die Flure zweigten auf genau die gleiche Art ab, ganz gleich, wo man den Aufzug verließ, und die Zimmer waren logisch nummeriert. Zimmer 406 war, ziemlich selbstverständlich, die sechste Tür, die man erreichte, wenn man im vierten Stock aus dem Aufzug ausgestiegen war. Das war unfassbar erfreulich. Nicht alle Gebäude waren gleich geschaffen.

Shelley saß tatsächlich bereits im Besprechungszimmer, sah  Notizen durch, sowie Farbfotografien, die in ordentlichen Abständen auf einem Besprechungstisch ausgelegt waren. Sie sah auf und lächelte, als Zoe eintrat.

Zoe konnte nicht ganz begreifen, wie Shelley, mit einem kleinen Kind zu Hause und keinem nennenswerten Vorteil hinsichtlich der Entfernung, vor ihr im Hauptquartier hatte sein können. Nicht nur das, aber wie konnte sie in ein Kostüm gekleidet sein, das ihre kurvige, aber schlanke Figur untermalte, die Winkel zwischen Hüfte, Taille und Brust akzentuierte, ohne einen Fleck des üblichen Schmutzes, der sich erwartungsweise im Umfeld eines Kleinkindes bildete. Und wie konnte sie so perfekt zurechtgemacht sein, mit einem leichten Hauch eines rosa Lippenstifts auf dem Mund und ihrem blonden Haar lässig in einem Chignon zurückgehalten. Aber so war es.

Ihr Vorgesetzter, Special Agent in Charge Leo Maitland, stand vorne im Zimmer und wartete mit der angespannten Ungeduld eines Jaguars auf der Jagd. Er war ein Army-Veteran mit soldatischer Haltung und nach einer erfolgreichen Karriere mit zahlreichen Beförderungen war er nach Hause zurückgekehrt, um in die Strafverfolgung zu wechseln. Das war alles fünfzehn Jahre zuvor geschehen, aber die ergrauenden Haare an seinen Schläfen waren kein Zeichen, dass er weniger Kämpfer als zuvor war. Er war 1,87 m groß, mit einem Brustumfang von hundertdreizehn Zentimetern und einem Bizeps von siebenunddreißigeinhalb Zentimetern, der die Säume seiner Uniform dehnte.

„Ah, Special Agent Prime“, sagte er. „Willkommen. Ich habe Ihrer Partnerin die Einsatzbesprechungsnotizen gegeben. Setzen Sie sich bitte und sehen sie sich an.“

Zoe gehorchte und stellte einen Kaffee zum Mitnehmen vor Shelley ab. Es war ihnen zur Gewohnheit geworden. Zoe steuerte den Kaffee bei und Shelley würde die gesamte höfliche Konversation beisteuern, die während des Falles gebraucht wurde. Jede von ihnen kümmerte um etwas, das sie tatsächlich auch fertigbrachte.

„Special Agent Rose hat die gesamten Informationen, aber ich gebe Ihnen einen Überblick. Wir haben schon zwei Leichen und es sieht nach einem hiesigen Fall aus, also werden Sie nicht reisen müssen.“

Maitland verschränkte seine Arme vor der Brust, woraufhin das Material seines Anzugs um seine Schultern herum sichtbar an seine Grenzen geriet. „Wir werden von der Lokalpresse ziemlich unter Druck gesetzt werden, da eines der Opfer recht bekannt war. Ihnen ist zweifellos bewusst, wie dringend ein dritter Todesfall und die Verwendung des Begriffs ‚Serienmörder� durch die Presse verhindert werden müssen.“

Zoe nickte. Eine solche Berichterstattung könnte Hysterie verursachen und letztlich die Fallaufklärung behindern. Auch würden dadurch die Nachrichten weiter verbreitet werden – und das bedeutete, dass sie es mit mehr nationaler oder sogar internationaler Presse zu tun bekommen würden. FBI-Agenten waren daran gewohnt, unter hohem Druck zu arbeiten, aber das bedeutete nicht, dass sie es schätzten. Besonders Zoe nicht, die Mikrofone zählen und die Längen der Fernsehkamerakabel analysieren würde, anstatt sich auf ihre Rede bei der Pressekonferenz zu konzentrieren.

„Angesichts Ihrer Verspätung …“ fuhr Maitland fort. Zoes Mund öffnete sich zum Protest, aber sie klappte ihn zu. Sie hatte sich an diesem Morgen für ihren Brunch freigenommen, als Ausgleich zu den vielen, vielen unbezahlten Überstunden, die sie geleistet hatte. Sie war kaum zu spät. Aber man widersprach dem Special Agent in Charge des J. Edgar Hoover-Gebäudes nicht. „Ich habe Ihre Partnerin schon informiert. Ich werde es ihr überlassen, Ihnen die Einzelheiten mitzuteilen. Angesichts Ihrer Neigung für Mathematik waren wir der Meinung, dass dieser Fall perfekt zu Ihren Fähigkeiten passt. Lassen Sie mich nicht hängen.“

Maitland rauschte aus dem Raum, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Zoe bemerkte, wie seine Hand direkt in seine Tasche griff, als er den Raum verließ und nahm an, dass die zweieinhalb Zentimeter dicke Ausbeulung wahrscheinlich ein Handy war. Er war ein beschäftigter Mann, der Anrufe zu machen und weitere Informationen weiterzugeben hatte. Sie würden ihn wahrscheinlich nicht oft sehen, bis der Fall erledigt war – sofern sie keinen Mist bei irgendetwas bauten, dann würde er wie eine Tonne Ziegelsteine auf sie herniederstürzen.

In Anbetracht von Maitlands Größe und der Tatsache, dass eine Tonne eintausend Kilo beinhaltete, war er nicht wirklich wie eine Tonne Ziegelsteine. Eher ein Zehntel davon.

„Zwei Opfer“, sagte Shelley und sicherte sich Zoes Aufmerksamkeit ohne eine höflich-triviale Einleitungsbemerkung. Sie begann, Zoe besser kennenzulernen und musste mittlerweile bemerkt haben, dass solche Bemerkungen keine positive Wirkung auf ihre Beziehung hatten. Seit Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte Zoe eine mindestens siebzigprozentige Verminderung von Plauderei bemerkt. „Beide in unserem eigenen Hinterhof. D.C. Metropolregion.“

„Ich hoffe, nicht in einem unserer tatsächlichen Hinterhöfe. Man sollte meinen, dass wir als Bundesagenten es bemerken würden.“

Shelleys Augen blitzten auf, als sie Zoe einen leichten Rippenstoß gab. „War das ein richtiger Witz? Was ist in dem Kaffee?“

„Ich habe mich heute Morgen mit einer alten Freundin getroffen. Ich nehme an, es hat mich in gute Stimmung versetzt.“

„Dann tut es mir leid, das unterbrochen zu haben.“ Shelley deutete auf die zwei Akten zu den Opfern, sorgfältig ausgebreitet und absichtlich auseinandergehalten. „Das ist das erste Opfer, vor ungefähr einer Woche. Er war ein junger Masterstudent, der auf dem Campus von Georgetown gefunden wurde. Sein Kopf war mit einem schweren Gegenstand eingeschlagen worden – die Gerichtsmedizin meint, dass es wahrscheinlich ein Baseballschläger war.“

„Sechs Tage“, murmelte Zoe, während ihre Augen die Akte überflogen. Sie las seine Daten: 1,80 m groß, zweiundachtzig Kilo, dreiundzwanzig Jahre alt.

„Entschuldige, ja.“ Shelley musste sich offensichtlich noch an die Präzision gewöhnen, die Zoe erwartete, auch wenn sie es einfach fanden, sich in anderen Bereichen aufeinander einzurichten. „Das zweite Opfer ist von gestern Abend. Ein Englischprofessor aus Georgetown, sein Kopf wurde mehrfach gegen sein eigenes Auto geschlagen, bis irreparable Schädelverletzungen entstanden waren.“

„Das College ist die Verbindung.“

„Nicht nur das.“ Shelley sah die Fotografien durch, zog Aufnahmen von oben heraus, die den gesamten Tatort zeigten. „Beiden war das Hemd aufgerissen worden – und ich meine aufgerissen, mit einiger Gewalt. Es scheint, als ob der reine Mordakt nicht reichte, um die Wut des Mörders zu befriedigen. Dann sind da diese … nun, sieh es dir selbst an.“

Zoe riss die Fotos fast aus Shelleys Händen. Sie hatte die Form der auf die Brustkörbe der beiden Männer geschriebenen Zeichen schon fast erkannt und ein genauerer Blick bestätigte es. Sie waren beide mit komplizierten mathematischen Gleichungen beschriftet worden – kompliziert genug, dass Zoe sich einen Stuhl hervorzog und sich setzte, ohne die Augen abzuwenden.

„Wurden die hier schon irgendwelchen potentiellen Zeugen gezeigt? Freunde, Fakultätsmitglieder, Studenten?“

„Im Fall des ersten Opfers ja. Die örtlichen Polizisten haben das Bild herumgezeigt. Natürlich stark beschnitten, um nur die Formel selbst zu zeigen. Sie haben diesen Morgen gerade das andere Bild in Umlauf gebracht, obwohl wir immer noch einige weitere Spuren finden werden, nehme ich an.“

„Und?“

Shelley zuckte mit den Schultern. „Niemand weiß, was es bedeutet.“

Zoe wusste nur zu gut, dass die Mathematikabteilung von Georgetown über viele gute Spezialisten verfügte. Wenn diese es nicht herausfinden konnten, bedeutete das, dass es eine hochkomplizierte Gleichung war. „Es sieht aus wie Quantenmathematik.“

„Das haben einige der Professoren auch gesagt. Aber sie erkennen es nicht als irgendetwas, das einer von ihnen je zuvor gesehen oder mit dem einer von ihnen je gearbeitet hätte.“

Zoe starrte weiter auf die Gleichung, ihre Gedanken rasten vorwärts und durch alle komplexen Zeichen und Zahlen und Buchstaben, versuchten, zumindest einen Eingang in das Muster zu finden. „Welche anderen Spuren haben wir?“

Shelley sah einige weitere Seiten durch. „Ich war gerade dabei, als du hereinkamst. Lass mal sehen … die Mitbewohner und Freunde des Studenten wurden alle befragt, ebenso seine Familie und das Lehrpersonal. Er war in einer nicht von Kameras überwachten Gegend des Campus, direkt in einem toten Winkel.“

„Bequem“, seufzte Zoe. Sie wünschte sich, dass sie nur ein einziges Mal einen Fall bekommen würden, bei dem die Tat vor Zeugen begangen oder von einer Kamera gefilmt worden war. Natürlich riefen sie das FBI normalerweise nicht zu Fällen hinzu, die einfach lösbar waren.

„Was den Professor betrifft, da sieht es aus, als ob nur am Eingang zur Parkgarage Kameras waren. So viele Leute kommen den ganzen Tag lang herein und heraus und wir haben überhaupt keine Überwachung der Fußgängerausgänge. Die Kameras haben nichts Verdächtiges aufgenommen.“

„Überhaupt keine Spuren“, stellte Zoe fest, stützte ihr Kinn in eine Hand, während sie sich zum siebzehnten Mal die Gleichung ansah. Langsamer, schneller, es machte keinen großen Unterschied. Es ähnelte nichts, das sie je gesehen hatte. Weit über den Level hinaus, bis zu dem sie in ihrer eigenen Collegezeit studiert hatte.

Sie widmete sich der anderen Gleichung, beim Professor. Es schien genau das Gleiche. Was war das?

„Was möchtest du zuerst tun?“ fragte Shelley, beendete ihre Aktendurchsicht.

„Nur eine Sekunde.“ Zoe hatte sich noch nicht einmal die Zeit genommen, die Daten des zweiten Opfers zu überprüfen, aber dafür war noch Zeit. Sie holte ihr Notizbuch und ihren Stift hervor und begann, zu schreiben, machte rasche und deutliche Abdrücke auf dem Papier, als sie einen ersten Lösungsansatz skizzierte. Griechische Buchstaben, Linien, Klammern, nach unten zeigende Dreiecke – alle Symbole in der Quantenmathematik hatte eine identische Bedeutung, die eine Zahl enthüllen würde. M geteilt durch t” minus t’, eins geteilt durch s’, dann addiert zu eins geteilt durch s” und so weiter und so fort, alles, um den Wert von B


zu finden, der später in eine andere Zeile der Gleichung eingefügt werden könnte, um den Wert eines anderen Zeichens herauszufinden.

Es begann einfach genug. Wenn der Wert von M dem Wert von r’ entsprach, dann ergaben die zwei ersten Zeilen absolut Sinn; aber dann zerstörte die dritte Zeile alles und schien einen völlig verschiedenen Wert für M zu ergeben. Gut, sie probierte es auf andere Weise. Vielleicht entsprach M tatsächlich dem doppelten Wert von r’, was dort immer noch genügend Sinn ergab und die dritte Zeile aufgehen ließ – aber in der sechsten Zeile musste der Wert von M Null erreichen und dann ergab es alles erneut keinen Sinn.

Als Zoe wieder aufsah, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war. Irgendwann hatte Shelley sich ihr gegenГјber gesetzt und sah sich etwas auf ihrem Handydisplay an.

„Das ergibt keinen Sinn“, verkündete Zoe.

Shelley sah auf, hob eine sorgfältig in Form gezupfte Augenbraue. „Du kannst sie nicht lösen?“

Zoes Lippen wurden zu einer dünnen Linie, bevor sie sich selbst überwinden konnte, es zuzugeben. „Ich kann sie noch nicht lösen“, sagte sie. „Vielleicht übersehen wir irgendeinen Hinweis. Das ist definitiv alles? Es stand nicht noch etwas auf ihren Rücken, oder Armen oder sonst wo?“

„Ich weiß nicht mehr als du“, sagte Shelley. „Ich habe einiges über den Professor nachgelesen. An seinem akademischen Werdegang sticht nichts heraus, auch nichts von dem, was ich online über sein Privatleben finden kann.“

„Prüf die Fotos noch einmal“, schlug Zoe vor, reichte ihr ein Bündel und nahm sich selbst einige. Sie betrachtete die Aufnahmen, ihre Augen nahmen den Winkel der Knochen auf, den Beugegrad des Beines im Tod, die Längen der Risse in ihren Hemden, unter Berücksichtigungder sichtbaren Stärke des Materials und der Nähte. Sie konnte nirgendwo irgendeine Verbindung erkennen. Nicht in ihrer jeweiligen Größe, ihrem Gewicht, ihrem Alter – und keine Spur von weiterer Tinte auf ihrer Haut.

Der besorgniserregende Aspekt war natürlich, dass mathematische Muster einfacher vorherzusehen waren, je mehr Daten man hatte. Zwei Zahlen konnten ohne Verbindung sein, die Möglichkeiten zwischen ihnen unendlich, zu viele, um sich für ein bestimmtes Vorgehen zu entscheiden. Drei Zahlen, nun, das würde einem eher erlauben, gezielter vorzugehen, eine Formel anzufangen. Aber das würde einen weiteren Todesfall erfordern.

Und sie wollten ganz sicher keinen weiteren Todesfall.

„Ich habe nichts“, sagte Shelley, schüttelte ihren Kopf.

„Tauschen wir“, schlug Zoe vor, reichte ihren Packen rüber und nahm dafür Shelleys. „Das einzig Bemerkenswerte ist der Winkel der Wunde auf dem Kopf des ersten Opfers. Der Angreifer war ein wenig kleiner, wahrscheinlich 1,75 m.“

Und wieder war es das Gleiche. Das gleiche frustrierende Nichts. Keine Spur von Tinte auf der Kleidung, kein Abdruck der Zahlen unter dem Stoff, nichts in der Umgebung. Die Parkplätze der Parkgarage waren nicht nummeriert, es waren auch keine Zahlen auf den Mauern, den die Decke stützenden Betonsäulen, oder in der Nähe des Fundortes des Studenten auf dem Gras.

Nichts.

Zoe gab auf, schüttelte ihren Kopf. „Ich muss die Leiche des Professors sehen“, sagte sie. „Es ist die einzige Möglichkeit, etwas zu entdecken, das uns die Fotografien nicht schon verraten.“

„Klasse“, sagte Shelley. Vielleicht war sie sarkastisch, Zoe fiel es immer schwer, den Unterschied festzustellen. „Dann lass uns mal einen toten Typen näher betrachten.“




KAPITEL VIER


Zoe trommelte mit ihren Fingern auf dem Steuer, während sie zur örtlichen Gerichtsmedizin fuhren, warf einen Seitenblick auf Shelley. Etwas an diesem Fall störte sie bereits und sie musste die Zweifel aussprechen, die in ihren Kopf krochen, bevor sie zur Besessenheit wurden. „Es ist seltsam, dass Maitland wusste, dass ich gerne an einem mathematikbasierten Fall arbeiten würde. Ich habe nie mit ihm besprochen, dass ich gerne mit Zahlen zu tun habe.“

Shelley räusperte sich leicht, mied Zoes Blick. „Nun, ich habe uns für diesen Fall freiwillig gemeldet. Ich hörte zufällig, wie er hineinkam und, nun ja, der Chief stimmte zu, dass wir ihn übernehmen könnten.“

Zoe verdaute dies einen Moment lang. Sie bekam normalerweise nichts von ihrem Chef, nur weil sie darum bat. „Einfach so? Du musstest ihn nicht überzeugen?“

Shelley drehte den Anhänger, den sie trug, ein goldener Pfeil mit einem Diamanten, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, immer wieder in den Fingern herum. „Ich sagte ihm, dass wir wahrscheinlich gegenüber allen anderen einen Startvorteil hätten, dass du gut in Mathe wärest.“

Zoe widerstand dem Drang, auf die Bremsen zu treten, hielt das Auto gleichmäßig und ruhig in Fahrt. Sie konzentrierte sich auf die Straße, bis das Rasen in ihrem Kopf sich verlangsamt hatte, und sprach entschieden und ruhig. „Du hast gesagt, ich wäre ‚gut in Mathe�?“

„Das ist alles, was ich gesagt habe, das schwöre ich. Ich habe ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Nichts darüber, du weißt schon, was du tun kannst.“

Shelley klang entschuldigend, aber das reichte nicht ganz aus, um das Dröhnen in Zoes Ohren verschwinden zu lassen. Gut in Mathe. Das war nah an der Wahrheit, zu nah, um sich damit wohlzufühlen. Es war fast ein Geständnis.

Vielleicht hatte sie einen schweren Fehler begangen, Shelley dahingehend zu vertrauen, dass sie ihr Geheimnis nicht verriet. Aber ihre Partnerin hatte immer wieder aufs Neue geschworen, dass sie es ohne Zoes Zustimmung nie jemandem offenbaren würde. Während sie es technisch gesehen auch nicht getan hatte, war es nah dran. Zu nah.

„Schau, es ist in Ordnung, oder?“ fragte Shelley. Ihre Stimme war ein wenig schriller geworden. „Es tut mir wirklich leid, wenn du nicht wolltest, dass ich das sage, aber es ist nur ein kleines Stück der Wahrheit. Nicht das ganze Bild. Und jeder kann gut in Mathe sein, weißt du? Es macht dich nicht so sehr anders.“

Zoes Finger griffen das Steuer fester, so fest, dass die Gummigriffe ein leises Geräusch von sich gaben. Ihr Kiefer bewegte sich steif. „Es war nicht deine Sache, es ihnen zu sagen.“

„Ich dachte nur – ich dachte nicht, dass es eine so große Sache sein würde, nur das zu sagen.“ Shelley seufzte, sackte gegen die Kopfstütze des Beifahrersitzes. „Ich habe Mist gebaut, das verstehe ich jetzt. Es tut mir leid. Aber nachdem du unseren großen Fall in Kansas gelöst hast, würden sie doch ohnehin schon begriffen haben, dass du gut mit Zahlen bist. Ich weiß, ich darf es niemandem sagen und das werde ich nicht, aber ich weiß nicht, warum du es nötig findest, es zu verschweigen.“

Zoe knirschte mit den Zähnen. Natürlich begriff Shelley es nicht. Shelley hatte es nicht erlebt. Shelley war nicht gezwungen worden, auf dem kalten Boden neben ihrem Bett die ganze Nacht zu beten, während ihre Mutter über die Teufelsgabe kreischte und predigte. Sie war in der Schule nicht für ihre Zerstreuung getadelt worden, nicht von den anderen Kindern wegen der verblüffenden Dinge verspottet worden, die sie durch einen einfachen Blick auf sie wusste.

Sie war nicht dabei gewesen, als Zoe gescheiterte Beziehungen durchlebte, in denen sie immer wieder missverstanden, mit nichts als der Betitelung „Freak“ und einem abermals gebrochenen Herzen zurückgelassen worden war.

„Es ist mein Geheimnis und ich entscheide, ob ich es erzähle oder nicht“, sagte sie fest, sobald ihr Herz wieder langsam genug schlug, dass sie die Worte sagen anstatt hervorstoßen konnte. Shelley war so weise, auf eine Antwort zu verzichten.

Sie hielten vor der Gerichtsmedizin und Zoe knallte die Autotür hinter sich zu, ging hinüber zum Eingang. Dann hielt sie an. Es würde nichts bringen, mit dieser sich hängenden Energie in die Untersuchung zu gehen. Sie musste es vergessen, es in ihrem Gehirn auf einem Regal ablegen und sich später darum kümmern. Jetzt musste sie professionell sein.

Die Gerichtsmedizinerin, eine fitte asiatische Frau Mitte vierzig mit scharfen Augen und Haaren, die zu einem Bob im Neunzig-Grad-Winkel geschnitten waren, der genau auf der Höhe ihres Kinns endete, war entgegenkommend. Sie zeigte ihnen die Leiche des Professors und blieb respektvoll im Hintergrund stehen, während sie ihre Untersuchung vornahmen.

Der nackt auf der Metallliege liegende Mann war auf weißes Fleisch reduziert worden. Als Zoe das Laken wegnahm, war es schwer für Zoe, die Verbindung zwischen diesem Brocken toten Fleischs und dem Mann, der es einst gewesen war, herzustellen und aufrechtzuhalten. Wer auch immer er gewesen war, er war schon lange verschwunden. Sie konnte es immer noch sehen, in den gelblichen Fingerspitzen, die auf eine Nikotinabhängigkeit hinwiesen, und dem kleinen zweieinhalb Zentimeter langen Abdruck über seinem linken Ohr, wo er jahrelang eine schlechtsitzende Brille getragen hatte. Aber das Eigentliche, das Wesen, was auch immer es war, das diesen Körper einst gefüllt und belebt hatte, war nirgendwo mehr zu finden.

So war es besser. Menschen lenkten sie ab. Sie verbargen ihr wahres Ich hinter Worten und Gesten, die sie nicht immer verstehen konnte. Aber Leichen konnten nicht lГјgen. Sie waren, wie sie waren, nicht mehr und nicht weniger.

Es schadete natürlich nicht, dass sein Gesicht verschwunden war. Nach innen eingeschlagen. Die Nase war völlig platt, die ganzen Hügel und Kurven jetzt innen in seinem Schädel. Auch die rechte Seite des Kopfes war gesplittert und gequetscht, zeigte deutliche Linien des Schlages. Niemand hätte das überleben können. Sogar eines seiner Augen war weg.

Die Gleichung fand sich auf seinem Torso, seitlich vom oberen Ende seiner Brust bis gerade unter seinen Nabel geschrieben. Sie sah genauso aus wie auf den Fotografien – das gesamte Ding war wirklichkeitsgetreu abgebildet worden. Mit ihren Händen in unbequemen weißen Wegwerfhandschuhen hob Zoe jeden seiner Arme und jedes seiner Beine hoch und drehte ihn sogar mit Shelleys Hilfe auf seine Seite. Sie konnten nirgendwo eine weitere Tintenspur oder überhaupt irgendein Zeichen entdecken, das auf einen fehlenden Teil der Gleichung hindeutete.

„Sie haben nichts übersehen“, sagte Shelley laut, bestätigte die wachsende Frustration, die sich hinter Zoes Stirn aufbaute.

„Der andere.“ Zoe drehte sich um, um die Gerichtsmedizinerin anzusehen. „Wir müssen auch den Studenten sehen.“

Die Gerichtsmedizinerin zuckte mit den Schultern, machte eine Handbewegung, um anzudeuten, dass sie es für sinnlos hielt und ging hinüber, um eine weitere Türe des metallenen Ablageschrankes zu öffnen, der als zeitweiser Ruheplatz fungierte. Sie zog sie mit einem langen schabenden Geräusch von gutgeöltem Metall auf Metall auf und ging zurück, um ihnen Zugang zu dem Bewohner zu gewähren.

Der Collegestudent sah noch jünger aus, als er es auf den Fotografien getan hatte, wie er da auf der kalten Metallliege lag, sämtliches Blut und mit ihm die Farbe aus den Wangen geschwunden. Die Oberseite seines Kopfes war eine Schweinerei, offen und nach innen eingedrückt. Er war mit einem respektvollen Laken bedeckt, aber Respekt war in diesem Fall nur ein Hindernis. Zoe kam näher und zog es zur Seite, bemerkte Shelleys Widerwillen, es zu tun.

Für eine lange Sekunde starrte Zoe, unfähig, das Gesehene zu verstehen. Dann fragte sie sich kurz, ob die falsche Leiche herausgezogen worden war, aber sie hatte sein Gesicht von den Tatortfotos erkannt. Endlich überwog der Unglaube und sie wandte sich mit einem derart finsteren Blick zu der Gerichtsmedizinerin um, dass die andere Frau zurückwich.

„Wo sind die Gleichungen?“ fragte Zoe, ihre Stimme leise und tonlos, bedrohlich genug, um jedem den dahinterstehenden Ärger deutlich zu machen.

„Nun, wir haben die Autopsie vorgenommen“, stotterte die Gerichtsmedizinerin, tastete hinter sich nach einem Metalltisch, um sich zu stützen. „Wir waschen die Leichen immer, um die Autopsie durchzuführen.“

„Sie haben die Beweise abgewaschen.“

Shelley kam näher, legte eine sanfte Hand auf Zoes Arm, vielleicht als Bitte, sich zu beruhigen. Zoe ignorierte es. Sie kochte, jeder Muskel ihres Körpers war voller Energie, wollte explodieren und etwas gegen die Wand schleudern. Vielleicht gegen die Gerichtsmedizinerin.

Der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, war, dass es sehr deutlich gegen den professionellen Verhaltenskodex ging. Wie konnten sie so etwas zugelassen haben?

„Wer hat das Waschen genehmigt?“ fragte Shelley, ihre Stimme leise und ruhig. Sie trat vor, ein wenig vor Zoe, als ob sie sie schützen wollte.

Die Gerichtsmedizinerin suchte nach Papieren, stotterte immer noch, das Gesicht erblasst. Zoe konnte es nicht länger ertragen. Sie ging mit einem Knurren in der Kehle aus dem Raum, knallte als Zugabe die Tür hinter sich zu. Da es eine Schwingtür war, war die Wirkung abgeschwächt, aber es löste trotzdem einiges der Anspannung in ihrem Körper.

Shelley kam einige Minuten später nach, fand sie am Ende des Flurs auf und ab gehend.

„Wir hätten sie wegen Manipulation der Beweise melden sollen“, sagte Zoe, sobald Shelley nah genug war, um sie zu hören.

„Sie haben im Rahmen ihrer Anweisungen agiert“, seufzte Shelley, zuckte mit den Schultern. „Der Fotograf war der Ansicht, dass sie alles dokumentiert hätten. Wir müssen es ihnen einfach glauben.“

„Sie sollten trotzdem bestraft werden. Haben sie keinen gesunden Menschenverstand? Es war offensichtlich ein Beweis. Und die leitenden Ermittler hatten die Leiche noch nicht einmal gesehen!“

„Nun, um fair zu sein, als sie die Autopsie vornahmen, war es ein lokaler Fall, keiner für die Bundesbehörde. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen einfach mit dem arbeiten, was wir haben.“

Shelley war rational, zu rational. Zoe mochte das nicht. Sie wollte eine Rechtfertigung fГјr die von ihr empfundene Frustration, verdammt, ein von ihnen beiden gemeinsam empfundenes GefГјhl. Sie hasste es, wenn man ihr das GefГјhl gab, dass sie der Freak mit dem Problem war. Wenn Dinge falsch gemacht wurden, war das ein Problem. Die Leute sollten die Dinge tun, fГјr die sie bezahlt wurden. So funktionierte die Gesellschaft.

„So etwas sollte deutlich als wichtig zu erkennen gewesen sein“, sagte Zoe, versuchte ein letztes Mal, Shelley in ihre eigene Wut zu locken.

Es funktionierte nicht. „Wir müssen ohnehin weitermachen“, sagte Shelley, ging hinaus und sah zurück, um sicherzustellen, dass Zoe ihr folgte. „Sollen wir als Nächstes mit der Frau des Professors reden?“

Zoe nickte, gab auf. Vielleicht reagierte sie Гјber. Man hatte ihr gesagt, dass sie das gelegentlich tat.

An diesem Fall gab es mehr als nur die sichtbaren Beweise auf den Leichen. Natürlich war die Mathematik verführerisch, sowie die Tatsache, dass eine angesehene Universität Ort der Taten war. Aber es gab immer noch eine andere Geschichte von den Familien der Opfer zu erfahren, von den Leuten, die sie kannten.

Vielleicht würde Mrs. Henderson Licht auf den Tod ihres Ehemanns werfen können – und dazu beitragen, dass dieser frustrierende Fall rasch geklärt wurde.




KAPITEL FГњNF


Shelley setzte sich auf den Fahrersitz, was bei ihren gemeinsamen Fahrten ungewöhnlich war. Shelley wusste, dass Zoe normalerweise als Beifahrerin übel wurde, aber an diesem Tag war sie so beschäftigt mit ihren Gleichungen, dass sie die vorbeirasenden Straßen kaum zu bemerken schien. Sie klammerte sich nicht einmal an ihren Sicherheitsgurt, das übliche Zeichen dafür, dass sie sich nicht wohl fühlte.

Shelley blickte herüber, wann immer sie die Möglichkeit hatte – beim Warten an Kreuzungen oder beim Stehenbleiben im dichten Verkehr. Was Zoe hektisch auf mehrere Seiten ihres Notizbuchs kritzelte, ergab für sie überhaupt keinen Sinn. Es hätten genauso gut Hieroglyphen sein können.

Zoe hatte ein wirkliches Talent, wenn es um Zahlen ging, aber das hatte auch andere Seiten. Eine zielstrebige Besessenheit konnte sie manchmal überkommen, wie jetzt. So sehr Shelley helfen wollte, sie hatte keine Ahnung, was gebraucht wurde – und Zoe würde es ihr nicht sagen. Sie war oft so. Ruhig, verschlossen. Shelley hatte die Geschichten über ihre vorherigen Partner gehört und es war nicht schwer, daraus abzuleiten, dass sie wahrscheinlich schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, anderen ihre Gedanken anzuvertrauen.

Zoe war es gewohnt, alleine zu arbeiten. Wenn es nach ihr ginge, wГјrde Shelley das Г¤ndern. Es wГјrde nur eventuell eine lange Zeit dauern, bis sie ihr Ziel erreichte. In der Zwischenzeit wГјrde sie sie ermutigen und daran erinnern mГјssen, ihre Gedanken mitzuteilen.

Nur vielleicht nicht hinsichtlich Mathematik. Shelley konnte ihr die alleinige Beschäftigung damit anvertrauen.

Der Englischprofessor lebte am anderen Ende der Stadt, in einem der eleganteren Vororte, weißgestrichene Häuser mit großzügigen Rasenflächen und passenden weißen Zäunen. Shelley hielt vor dem Haus an, stellte den Motor ab und wartete, dass Zoe es bemerkte.

Sie sah nicht einmal auf.

Es gab Zeiten, in denen Shelley das Gefühl hatte, sich in Zoes Gegenwart vorsichtig verhalten – sie mit der größten Behutsamkeit behandeln zu müssen. Mit Samthandschuhen. Was irgendwie ironisch war, wenn man bedachte, dass Shelley in ihrer Zeit zu Hause die ganze Zeit elterliche Pflichten erfüllte. Es gab mehr als einige Gelegenheiten, bei denen sie das Gefühl hatte, das Gleiche auf der Arbeit zu machen, auch wenn Zoe die Ältere von ihnen beiden war.

„Wir sind da“, sagte Shelley sanft, wollte Zoe nicht mitten aus ihren Berechnungen herausreißen.

Zoes Stift hielt mitten in der Bewegung inne und sie blickte endlich auf. Sie schien überrascht, irgendwo anders zu sein als auf dem Parkplatz der Gerichtsmedizin. „Ich muss nur noch …“

Shelley zog eine Augenbraue hoch. „Z, dauert es weniger als zwei Minuten? Denn wenn nicht, sollten wir losgehen und mit der Frau des Professors sprechen und dann zur Gleichung zurückkehren.“

Zoe seufzte hörbar, schien aber zuzustimmen. Sie packte ihr Notizbuch in eine Tasche und stieg aus dem Auto, was Shelley als Signal nahm, das Gleiche zu tun. Sie revidierte ihre frühere Überlegung: der Umgang mit Zoe war nicht genau wie der Umgang mit einem Kind. Eher manchmal wie der mit einem mürrischen Teenager.

Mrs. Henderson schien sie, oder zumindest irgendjemanden, erwartet zu haben. Sie war ordentlich in ein dunkles Kleid mit Blumenmuster gekleidet, die gedämpften Farben vermittelten ein wenig von dem, was sie durchlitt. Ihre Augen waren rotgeädert, aber offen und scharfsinnig, machten sich nur Augenblicke nach ihrem Zusammentreffen auf der Türschwelle einen Eindruck von Shelley und Zoe.

„Ich bin Special Agent Shelley Rose und das ist Special Agent Zoe Prime. Wir würden gerne hereinkommen und über Ihren Ehemann sprechen, Mrs. Henderson.“

Die Frau nickte, bedeutete ihnen, hineinzukommen, trat zurück, damit sie die Tür schließen konnte, nachdem sie eingetreten waren. Das Haus war in einem dezenten klassischen Stil möbliert, dunkles Holz und bequeme Kissen und Überwürfe. Mrs. Henderson führte sie in ein Wohnzimmer, wo Shelley dankbar für sich und Zoe das Angebot eines Kaffees annahm.

„Sie scheint es sehr gut zu verkraften“, murmelte Shelley, betrachtete ihre neue Umgebung. Es war ordentlich, jeder einzelne Gegenstand an seinem Platz. Kein Staub auf dem niedrigen Couchtisch mit der Marmorplatte oder dem dunklen Sideboard voller Erinnerungsstücke und Nippes. Frisches Obst lag in einer polierten Schale in der Mitte des Tisches. Es wirkte eher wie eine Fernsehkulisse als ein tatsächlich bewohntes Zuhause.

Vielleicht verarbeitete Mrs. Henderson ihre Trauer, indem sie das Haus putzte und aufräumte, bereit für Besucher. Es wäre nicht völlig ungewöhnlich. Shelley hatte es zuvor erlebt. Es war mit Verleugnung verbunden – der Gedanke, dass, wenn sie nur sicherstellte, dass alles perfekt war, ihr Ehemann vielleicht wieder in der Tür stand.

Die Beschäftigung hielt zudem die Trauer auf Armeslänge.

Eine gerahmte Fotografie stand auf dem Kaminsims: der Professor und seine Frau, in glГјcklicheren Zeiten. Shelley betrachtete das Bild und versuchte, nicht die schreckliche Schweinerei vor sich zu sehen, in die der Kopf des Professors verwandelt worden war.

„Siebzehn Statuetten“, murmelte Zoe. Shelley folgte ihrem Blick zum Sideboard und wusste, dass Zoe tat, was sie immer tat: nach Zahlen suchen. In diesem Fall hatten sie allerdings eine neue Bedeutung angenommen. Sie suchte nach einem Hinweis, der zu einem Durchbruch bei den Gleichungen führen würde.

Die Hausherrin kehrte schon nach einigen Minuten zurück, trug ein Tablett mit drei Tassen heißen Kaffees. Das zarte Porzellan von Mrs. Hendersons Tasse stand im Gegensatz zu der einfachen Sachlichkeit der anderen beiden. Ein Haushalt, der zwei Persönlichkeiten verriet. Vielleicht eine Aussage, dass die Besucher, die sie heute empfing, nicht ihr bestes Porzellan wert waren.

„Das muss ein großer Schock für Sie gewesen sein“, sagte Shelley, hob ihre Tasse und pustete sanft über die Oberfläche des Kaffees, bevor sie einen Schluck nahm. Fragen oder Aussagen wie diese, offen und einladend, ermutigten die Leute oft, mehr Informationen preiszugeben. Die Art Information, zu der man vielleicht von selbst gar keine Fragen gestellt hätte.

„Oh ja“, Mrs. Henderson seufzte tief, lehnte sich in dem Sessel zurück, der anscheinend ihr üblicher Sitzplatz war. „Ich kann es immer noch nicht ganz glauben. Mein Ralph, einfach verstorben. Und auch noch so gewaltsam. Ich kann es einfach nicht begreifen.“

„Können Sie sich einen Grund für diese extreme Gewalt vorstellen, Mrs. Henderson?“

Die ältere Frau schloss kurz die Augen, eine Hand flatterte zu ihrer Stirn hinauf. Sie war immer noch mit einem einfachen goldenen Ehering geschmückt, neben einem aufwendigeren Schmuckstück mit kleinen Diamanten. Vielleicht ein Verlobungsring, jahrzehntealt. „Zuerst dachte ich, sie wollten etwas stehlen. Sein Auto oder seine Geldbörse. Aber die Polizei sagte, dass nichts fehlt.“

„Die Psychologen teilten uns mit, dass es am  Tatort Hinweise auf große Wut gibt. Diese Art Wut, nun, normalerweise stammt sie daher, dass jemand jemanden persönlich kennt. Gibt es da jemanden, der Ihnen einfällt? Jemanden, der auf Ihren Ehemann wütend ist, genug, um ihm Böses zu wünschen?“

Ein besticktes Taschentuch wurde hochgehoben, um ihre Augen abzutupfen, die beringte Hand hob sich, um eine Strähne ihres mausbraunen Haares zurückzustreichen. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, Ralph war – er war Ralph. Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er kam mit seinen Kollegen zurecht, wurde von seinen Studenten gemocht. Wir haben einige Freunde in der Nachbarschaft, die ab und an zum Abendessen vorbeikamen. Er hatte nicht einmal mit Fremden gestritten. Er hatte nichts Streitlustiges . Jeder liebte ihn!“

„Gut, also keine bekannten Feinde“, sagte Shelley, nickte ermutigend, obwohl die Antwort sie frustrierte. Es war immer besser, wenn man wusste, wohin man sich als Nächstes wenden konnte. „Während seiner ganzen Karriere, meinen Sie? Er hatte nie irgendwelche Probleme?“

Mrs. Henderson schniefte, zuckte mit den Schultern. „Nun, es gab immer kleine Dinge“, sagte sie, obwohl ihr Ton zeigte, dass sie der Meinung war, dass es unmöglich von Bedeutung sein konnte. „Er war ein Professor. Es gab Studenten, die mit ihrer Benotung nicht einverstanden waren. Oder jene, die rausflogen, weil sie die Vorlesungen nicht besucht oder ihre Arbeiten zu spät eingereicht hatten. Sie denken alle, sie würden eine Sonderbehandlung verdienen. Aber das ist normal. Einfach Teil des Jobs. Niemand würde jemanden wegen einer Benotung umbringen, oder?“

Shelley konnte erkennen, dass Mrs. Henderson diese Frage ernst meinte, nach Beruhigung suchte. Leider wusste Shelley, dass sie ihr diese nicht geben konnte. Die Leute töteten aus allen möglichen Gründen. Es stand nicht immer Vernunft dahinter. Manchmal war es einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, zusätzlich zu allem anderen.

Vielleicht war es ein Gedanke, dessen Verfolgung sich lohnte. Reiches Kind mit Anspruchsdenken, das im Leben immer alles erhält, versagt nun zum ersten Mal? Bekommt einen durch Gewöhnung an Privilegien hervorgerufenen Wutanfall? Oder ein Student, der am Ende war, nichts mehr hatte, wofür es sich zu leben lohnte – Eltern kürzlich verstorben, Freundin hat mit ihm Schluss gemacht, hat seinen Teilzeitjob verloren und nun noch dazu eine schlechte Note? Man könnte es zumindest in Betracht ziehen.

„Hoffen wir, dass es nicht so ist“, bot sie mit einem leichten Lächeln, das ihr Mitgefühl vermitteln sollte, an. „Können Sie sich an etwas Ungewöhnliches erinnern, das in den letzten Tagen oder Wochen – sogar Monaten – geschehen ist?“

Mrs. Henderson schüttelte ihren Kopf, betupfte erneut ihre Augen. „Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Alles war einfach – normal. Deshalb war es so ein Schock. Völlig unerwartet. Ich wüsste nicht, warum irgendjemand meinem Ralph überhaupt wehtun wollen sollte.“

Die Frau wurde zunehmend verzweifelter. Vielleicht wäre es angemessen, die Befragung zu beenden, sie in Ruhe zu lassen. „Gibt es etwas anderes, das Sie uns sagen können – irgendetwas? Es mag nicht einmal relevant erscheinen, aber jede kleine Information stellt ein weiteres Puzzlestück dar.“

Mrs. Henderson schГјttelte hilflos den Kopf.

„Gut, eine letzte Frage. Erinnern Sie sich, ob Ihr Ehemann je über einen Studenten namens Cole Davidson gesprochen hat?“

„Nicht, bis sein Name in den Zeitungen stand“, sagte Mrs. Henderson. „Dieser arme Junge. Glauben Sie … glauben Sie, dass die Fälle zusammenhängen? Das tun sie sicher, nicht wahr? Zwei Morde innerhalb einer so kurzen Zeitspanne?“

„Es ist nicht hilfreich für uns, zu diesem Zeitpunkt zu spekulieren.“ Shelley nahm einen letzten Schluck von ihrem Kaffee, bedauerte es, eine halbe Tasse dieses sehr guten Kaffees stehenlassen zu müssen. „Aber wir werden uns melden, wenn wir Ihnen mehr sagen können.“

Shelley stand auf, zögerte dann, als Zoe es ihr gleichtat. „Mrs. Henderson, haben Sie jemanden, der Ihnen heute Gesellschaft leisten kann?“

Sie nickte langsam, stand auf, um sie zur Tür zu begleiten. „Meine Tochter fliegt her. Sie sollte bis heute Abend hier sein.“

Das erleichterte Shelley. Eine Frau mit ihrer Trauer alleine zu lassen, fühlte sich nie richtig an, ganz gleich wie viele Angehörigenbefragungen sie machte. „Wir melden uns dann, Mrs. Henderson. Versuchen Sie, in der Zwischenzeit ein wenig Ruhe zu finden.“

Sie stiegen wieder ins Auto ein, Zoe zog sofort ihr Notizbuch hervor, um erneut hineinzuschreiben. Shelley fragte sich, ob sie überhaupt ein Wort der Befragung gehört oder diese sofort als nutzlos abgetan und die ganze Zeit über Zahlen nachgedacht hatte.

Was auch immer es war, Shelley konnte sich nicht darüber ärgern. Momentan waren die Gleichungen die einzigen richtigen Hinweise, die sie hatten. Während sie zurück zum Hauptquartier fuhren, konnte Shelley nicht anders, als sich Sorgen zu machen, dass sie nichts Weiteres von Nutzen finden würden, das den Fall knacken würde. Da Zoe so auf die Zahlen fixiert war, lag es an Shelley, etwas anderes zu finden, das einen Unterschied machen würde.

Das Problem war, herauszufinden, wo sie suchen sollte.




KAPITEL SECHS


Zoe ärgerte sich über jeden Moment, den sie vergeudeten, als sie vom Parkplatz durch das Gebäude zu dem Zimmer, das sie für ihre Ermittlung übernommen hatten, gingen. Fast fünfhundert Schritte Entfernung, die sie mit Arbeit verbracht haben könnten. So schön es war, an etwas zu arbeiten, das, wie Shelley es ausgedrückt hatte, in ihrem eigenen Hinterhof geschehen war, Zoe wurde bereits gereizt. Die Gleichungen weigerten sich, ihr Geheimnis preiszugeben, blieben vage und schleierhaft.

Sobald sie den Tisch erreichte setzte Zoe sich hin und nahm ihre Notizen wieder auf, versuchte, sich durch jedes Element der Gleichung des Professors zu arbeiten, Stück für Stück. Seine war immerhin diejenige, die sie persönlich gesehen hatten, die, von der sie sicher sein konnten, dass sie komplett war.

„Ich sehe mir sein Fakultätsmailkonto an“, verkündete Shelley, ließ ihre Tasche auf einen Stuhl fallen und holte ihr Telefon heraus.

„Ist das notwendig?“ fragte Zoe, zog die Nase kraus. Es hatte keinen Sinn, einem solchen Hinweis nachzurennen. Die Antwort lag in den Gleichungen, nicht im Privatleben des Professors. So musste es sein. Es gab keine Verbindung zwischen Cole Davidson und diesem Englischprofessor, nicht ohne die Gleichungen.

„Ich bin nicht gut in Mathe, also kann ich dir nicht dabei helfen, diese Zahlen durchzugehen“, erklärte Shelley. „Etwas, das Mrs. Henderson sagte, ließ mich aufhorchen. Es könnte durchaus etwas mit einem Studenten zu tun haben. Jemand, der sich irgendwie ungerecht behandelt fühlte. Es ist möglich, dass es viele Leute gibt, die sowohl Cole wie auch Professor Henderson vom Campus kannten.“

Zoe zögerte, ihre Einwände lagen ihr auf der Zunge. Sie war der Meinung, dass es Zeitverschwendung wäre, sich durch die E-Mails eines toten Mannes zu wühlen. Aber was machte es? Shelley hatte recht – sie konnte bei den Gleichungen nicht helfen. Und vielleicht war es an der Zeit, dass Zoe ihr zutraute, Dinge auf ihre eigene Art zu untersuchen.

Vielleicht wäre es auch gut für Zoe, wenn dieser Fall sich durch eine verärgerte Email lösen ließ anstatt durch die Zahlen. Nachdem Shelley ihre Vorgesetzten darauf hingewiesen hatte, dass Zoe gut in Mathe war, lag Zoe nicht unbedingt viel daran, es zu beweisen. Es wäre tatsächlich besser, wenn sie es als fehlgeleitete Überzeugung ihrer Partnerin darstellen konnte.

Aber natürlich nicht, wenn es den Fall gefährdete. Den Mörder aufzuhalten war immer noch das Wichtigste.

Zoe widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Gleichungen, während Shelley die Universität anrief, um den benötigten Zugang zu bekommen. Allerdings war sie so weit gekommen, wie es ihr möglich war – mit beiden. Es gab natürlich immer noch die Möglichkeit, dass etwas auf der Leiche des Studenten übersehen worden war, aber sie hatten den Professor selbst überprüft.

Was Гјbersah sie also?

Es gab natürlich eine weitere Möglichkeit: dass ihre Kenntnisse einfach nicht fortgeschritten genug waren, um sie zu lösen. Es war ein Unterschied, ob man in der Lage war, Zahlen – Entfernungen, Dimensionen, Winkel – zu sehen oder Gleichungen der Quantenmathematik zu lösen. Es bedurfte weiterer Fähigkeiten, Fähigkeiten, die andere Leute über ihr ganzes Leben hinweg entwickelten. Zoe hatte vielleicht ein Talent, aber sie hatte es der Verfolgung von Mördern gewidmet, nicht Mathematikstudien.

Was sie an etwas anderes denken lieГџ.

Sie stand auf, ließ Shelley noch immer mit einer Vorzimmerdame am Handy plaudernd zurück und trug ein Bündel Fotografien den Flur entlang zum Aufzug. Zwei Stockwerke nach oben und einen Flur hinunter, der mit dem gerade verlassenen identisch war – abgesehen davon, dass jedes der Zimmer an diesem Flur wesentlich mehr Macht ausströmte.

Zoe holte Luft, bevor sie an die TГјr ihres Chefs klopfte. Wie oft war sie schon herzitiert und zusammengestaucht worden, weil sie einen weiteren Partner verloren oder ihre Waffe abgefeuert hatte?

Aber diesmal war es anders und sie trat ein, als sie dazu aufgefordert wurde, versuchte, nicht nervös zu werden.

Angesichts seiner imponierenden Gestalt und seiner überdurchschnittlichen Muskeln war es leicht vorstellbar, wie einschüchternd Special Agent in Charge Maitland im Außendienst gewirkt hätte. Kriminelle wären nach einem Blick auf ihn abgehauen.

Zoe gab sich groГџe MГјhe, nicht ebenso zu empfinden.

„Sir“, sagte sie, blieb zögernd im Türrahmen stehen.

Maitland sah von seinen Papieren auf, setzte dann weiter seine Unterschrift unter einen Antrag. „Kommen Sie rein, Special Agent Prime. Stehen Sie nicht den ganzen Tag im Flur rum.“

Zoe machte einen Schritt nach vorne, ließ die Tür etwas zögerlich hinter sich zufallen. Sie straffte aber ihre Schultern und trat ihm mit der aufrechten Haltung gegenüber, die sie in seiner Gegenwart immer annahm. „Sir, es geht um den Fall, an dem Special Agent Rose und ich arbeiten. Der Collegestudent und der Professor, die mit auf ihre Leichen geschriebenen Gleichungen aufgefunden wurden.“

Trotz der Menge an Fällen, die zweifellos die D.C. Außenstelle durchliefen, zögerte Maitland nicht eine Sekunde. „Ich weiß. Was brauchen Sie?“

„Die Gleichungen sind ausgesprochen anspruchsvoll“, sagte Zoe, fühlte sich ein wenig wie eine Versagerin, als sie zugab, dass sie für sie zu schwer waren. Trotzdem musste es sein. Mit dem Blick auf die ordentlichen Neunzig-Grad-Winkel, in denen alles auf Maitlands Schreibtisch lag, anstatt auf seinem Gesichtsausdruck brachte sie sich dazu, fortzufahren. „Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn wir einen Spezialisten hinzuziehen. Jemanden, der mit einer professionellen Perspektive an den Gleichungen arbeiten kann.“

Maitland nickte, hielt dann beim Schreiben inne, als er begriff, dass sie fertig war. „Schwebt Ihnen jemand Bestimmtes vor? Special Agent Rose hat uns daran erinnert, dass Sie einmal Mathematik studiert haben.“

„Ja, das tut es, Sir.“

„Gut.“ Maitlands Aufmerksamkeit kehrte zu seinen Papieren zurück, er betrachtete die Unterhaltung als beendet. „Erlaubnis gewährt. Reichen Sie umgehend die notwendigen Papiere ein.“

„Ja, Sir.“ Zoe drehte sich um und floh fast zur Tür, glücklich über den positiven Ausgang. Sie würde auf gar keinen Fall herumstehen und darauf warten, dass er am Ende seine Meinung änderte.

Es gab Arbeit zu erledigen – und jemand sehr Wichtigen zum Fall hinzuzuziehen.


***

Zoe wartete gespannt, sah ihrer Mentorin bei der Betrachtung der Bilder zu.

„Die sind … verstörend.“ Dr. Applewhite schüttelte den Kopf, schob ihre Unterlippe für drei Sekunden zwischen ihre Zähne, während sie die Fotografie ans Ende des Stapels in ihren Händen schob und die nächste ansah. „Ich vergesse manchmal, dass du dir täglich solche Dinge ansehen musst. Es muss belastend sein.“

Zoe zuckte mit den Schultern. „Tote Körper sind tot. Mich belastet es, wenn ich einen Fall nicht lösen kann.“

„Und das hier ist einer, den du noch nicht lösen konntest.“ Es war keine Frage. Zoe hatte die Doktorin schon informiert, dass sie Hilfe brauchte. Dr. Applewhite wusste, dass es ein offener, aktueller Fall war und dass eine Erlaubnis notwendig gewesen war, damit sie überhaupt diese Unterhaltung führen konnten. Sie begriff also, dass die Zeit drängte. Mit jeder vergehenden Stunde sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Person finden würden, die das getan hatte.

Bei Tötungsverbrechen waren die ersten vierundzwanzig Stunden entscheidend. Jeder wusste das. Achtundvierzig Stunden ohne Verhaftung und man begann, sich auf gefährliches Territorium zu bewegen. Die Art von Fällen, die zu Episoden spätabendlicher Fernsehsendungen wurden.

Der Collegestudent war schon seit weit Гјber achtundvierzig Stunden tot.

„Ich muss wissen, was es bedeutet“, erklärte Zoe. „Momentan ist es die einzige Spur, die wir haben. Es scheint keine Verbindung zwischen dem Professor und dem Studenten zu geben, abgesehen von ihren Fundorten. Keine Zeugen, kein Material aus Überwachungskameras. Wir müssen herausfinden, welche Botschaft der Mörder übermitteln möchte, wenn wir ihn fassen wollen.“

Dr. Applewhite betrachtete die Bilder stirnrunzelnd und legte sie neben Zoes Notizen, um die Berechnungen zu prГјfen, die Zoe bereits gemacht hatte.

„Deine Berechnungen scheinen fehlerfrei“, sagte sie nach einer Weile. „Ich kann keinen anderen Weg sehen, den du nicht schon ausprobiert hast. Es ist ausgesprochen anspruchsvoll – sogar höher als der Level, auf dem ich arbeite.“

Zoes Herz sank. Sie war sicher, so sicher gewesen, dass Dr. Applewhite die Antworten hätte. Nun schienen diese Hoffnungen zerstört zu sein.

Sie grГјbelte bereits Гјber Alternativen nach, Гјberlegte, was sie Shelley sagen sollte, als Dr. Applewhite erneut sprach.

„Ich kenne einige Leute, die vielleicht helfen können“, sagte sie. „Professoren. Einige Mathematiker, die in anderen Bereichen arbeiten. Wenn ich ihnen das hier zeigen darf, könnte ich vielleicht damit ein wenig weiterkommen. Das ist die Art Herausforderung, die sie alle lieben werden, also würden wir wenigstens einige fähige Köpfe einbeziehen können.“

Zoe nickte zustimmend. „Das würde hilfreich sein.“

Dr. Applewhite strich ihren grauwerdenden Bob hinter ein Ohr und sah auf, fixierte Zoe nun mit diesem forschenden Blick. „Wie kommst du hiermit zurecht? Es geschieht nicht oft, dass eine mathematische Frage auftritt, die du nicht beantworten kannst.“

Zoe überlegte kurz, zu lügen, ließ dann aber ihre Schultern herabhängen. „Ein wenig wie ein Versagen. Das ist meine Spezialität. Ich sollte wenigstens in der Lage sein, es lösen zu können. Wenn ich es nicht kann, wer beim FBI sollte es dann tun?“

Bei jedem anderen hätte es wie Prahlerei geklungen. Für Zoe war es einfach  nur eine Tatsache. Analysten und dergleichen arbeiteten vielleicht den ganzen Tag mit Zahlen, aber sie begriffen sie nicht so instinktiv wie sie es tat. Sie konnten nicht eine Gleichung auf einer Seite ansehen und die Antwort so deutlich sehen, als ob sie daneben stünde. Das war zumindest bei ihr normalerweise der Fall.

Das hier war ein anderes Kaliber.

„Man kann nicht erwarten, dass du alles löst. Kein Agent in der Geschichte des FBI hatte je eine hundertprozentige Aufklärungsrate.“

Zoe lächelte matt. „Ich bin sicher, es gab einige. Agenten, die direkt nach der Lösung ihres ersten Falles getötet wurden oder das FBI verließen, zum Beispiel.“

Dr. Applewhite rollte mit den Augen. „Es sieht dir ähnlich, das Schlupfloch zu finden. Gut, ich werde einige Anrufe machen und diese Gleichungen einigen meiner Kollegen zeigen. Ich werde ihnen nicht sagen, worum es geht – nur, dass es dringend und eine große Herausforderung ist. Das sollte sie genügend faszinieren, um daran zu arbeiten. Ich werde dich sofort wissen lassen, wenn jemand einen Durchbruch erzielt.“

„Und auch alle andere“, forderte Zoe sie auf. „Wenn jemand einen Fehler findet, oder ein Zeichen, dass etwas fehlt. Wir konnten die erste Leiche nicht komplett überprüfen, um zu sehen, ob der Fotograf etwas übersehen hat. Denken Sie auch daran, dass wir nicht wissen, ob es eine Gleichung oder zwei separate Aufgaben sein sollen.“

„Verstanden.“ Dr. Applewhite legte die Fotografen vor sich auf den Schreibtisch, fünf Zentimeter rechts von sich, näher am Laptop. Eine Geste, die Zoe zeigte, dass sie sich darum kümmern würde, sobald sie die Möglichkeit hatte. „Nun, wie steht es mit Dr. Monks Empfehlungen? Hast du weiter darüber nachgedacht –“

Zoes Klingelton ertönte aus ihrer Tasche, begleitet von lautem Brummen. Gerade noch davongekommen, dachte sie, während sie ein entschuldigendes Gesicht machte und den Anruf entgegennahm.

„Special Agent Prime.“

„Z, ich bin’s. Ich hab was in den E-Mails des Professors gefunden.“

„Ich bin unterwegs“, sagte Zoe ihr, beendete das Gespräch und sprang mit einem Nicken in Richtung ihrer Mentorin aus ihrem Stuhl. Was auch immer es war, es musste vielversprechender sein als das Nichts, das sie jetzt hatten.




KAPITEL SIEBEN


Zoe fuhr auf den Campusparkplatz. Zu dieser Zeit, als der Abend sich rasch niedersenkte, war er ziemlich voll – die Autos gehörten den Studenten, die in den diversen Wohnheimen und Wohnungen der Umgebung lebten. Jedes hatte einen Aufkleber mit einer Universitätsparkerlaubnis auf der Windschutzscheibe. Zoes Auto hatte etwas Besseres – einen FBI-Aufkleber.

„Lies es mir noch mal vor?“ bat Zoe. Sie war hinsichtlich Shelleys Theorie immer noch unsicher. Über eine schlechte Note wütend zu sein, war eine Sache, aber wütend genug, um zu töten?

Shelley holte die Email ohne den leisesten Seufzer der Frustration wieder auf ihrem Telefon hoch, was ihr anzurechnen war. Sie hatte den Screenshot gespeichert und als Beweis mitgebracht – einen Beweis, den sie brauchen würden, wenn sie den Studenten konfrontieren wollten, der sie geschickt hatte.

„‚Professor�“, las sie vor. „‚Ich kann nicht glauben, dass Sie mich haben durchfallen lassen. Meinen Sie das echt ernst? Ich habe mir verdammte Mühe mit dieser Hausarbeit gegeben und Sie haben einfach entschieden, mich aus dem Kurs zu werfen! Lehrer sollen helfen und unterstützen. Danke für ein beschissenes Garnichts. Sie sind der schlimmste Professor, den ich je hatte. Ich hoffe, Sie werden gefeuert. Ich bin nicht der Einzige, der Sie total hasst. Sie werden über glühende Kohlen laufen, wenn der Dekan sich unsere Beschwerden angehört hat. Versuchen Sie, heute gut zu schlafen, Arschloch.�“

Zoe war mit den Gedanken schon woanders, als Shelley fertig war. Sie hatte es schon einige Male gehört und dieses erneute Mal hatte ihre Meinung nicht geändert. Es war studentisches Wutgeschrei, nichts weiter. Drohungen gegen seine Karriere, nicht gegen sein Leben.

Ganz davon abgesehen, dass der Student Englisch studierte, nicht Mathematik. Die Verbindung war nicht eng genug. Wie konnte dieser kaum des schriftlichen Ausdrucks fähige Student gewusst haben, wie man komplizierte Gleichungen schreibt? Kompliziert genug, um Experten vor Rätsel zu stellen?

Und außerdem, wenn der Junge auf den Professor sauer war, erklärte es nicht, warum er es auf das erste Opfer – den Studenten – abgesehen haben sollte.

„Nun?“ fragte Shelley.

Zoe realisierte, dass sie schweigend dagesessen und nicht auf Shelleys Vorlesen reagiert hatte. Sie zuckte jetzt mit den Schultern. „Klingt nach nichts.“

„Komm schon, er bedroht den Professor ganz offen, Z“, sagte Shelley. „Und dieser Hinweis auf andere verärgerte Studenten – was, wenn er andere kennt, die es vielleicht getan haben? Wir müssen ihn zumindest befragen.“

Zoe starrte hinaus auf den dunklen Campus, die Arme vor dem Steuer über der Brust verschränkt. „Wenn du meinst.“

Es war offensichtlich nicht die Antwort, die Shelley erhofft hatte, denn sie gab einen gereizten kehligen Laut von sich und drehte sich weg.

Ihr Telefon summte fast genau in diesem Moment und sie sah hinunter, um die eingehende Mitteilung zu lesen. „Ich habe gerade eine Mail von einer Sekretärin in der Zulassungsstelle bekommen. Sie hat Jones’ Stundenplan rübergeschickt.“

„Jones?“ unterbrach Zoe.

Diesmal seufzte Shelley und rollte mit den Augen. „Jensen Jones, der Student, wegen dem wir hier sind. Ich weiß, du glaubst nicht, dass es eine wirkliche Spur ist, aber ich hatte gedacht, dass du wenigstens aufmerksam bist.“

Zoe zuckte erneut mit den Schultern, entschuldigte sich nicht. Sie hatte bessere, wichtigere Dinge, auf die sie sich konzentrieren musste. Die Gleichungen. Die Tatsache, dass sie bei deren Lösung immer noch keinen Schritt weiter war. Es war eine Qual, darauf zu warten, dass Dr. Applewhites Kontakte sie sich ansahen und sich bei ihr meldeten.

„Das hier ist jedenfalls wichtig. Jones hat auch einen Physikkurs belegt. Und rate, wer der Tutor für diesen Kurs war?“

Zoe starrte sie unbewegt an. Sie wГјrde dieses Spielchen nicht mitspielen.

Shelley fuhr unverdrossen fort: „Cole Davidson. Auch bekannt als Mordopfer Nummer Eins. Jones hatte eine persönliche Verbindung zu beiden Opfern.“

„Aber er studiert nicht Mathematik.“ Zoe konnte es nicht länger zurückhalten. Sie weigerte sich zu glauben, dass die Gleichungen einfach nur beliebig waren, nur Kritzeleien, die sie ablenken sollten. Sie mussten in dem Fall eine Schlüsselrolle spielen. Sie mussten.

Denn wenn sie das nicht taten, war Zoe in diesem Fall nicht so nützlich wie sie geglaubt hatte und alles wäre nur ein langweiliger Durchschnittsmordfall. Sie konnte nicht genau sagen, warum sie diese Möglichkeit so sehr störte. Sie wusste nur, dass sie diese Gleichungen lösen und diese der Schlüssel sein mussten.

„Schau, ich weiß, dass du dich auf deinen höheren Rang berufen könntest, wenn du wolltest. Du bist die vorgesetzte Agentin. Aber ich möchte nicht mit einem ungelösten Fall enden und nicht sagen können, dass wir jeden Stein umgedreht haben. Ich werde hineingehen und ihn befragen“, sagte Shelley entschieden, öffnete ihre Tür und stieg aus dem Auto.

Zoe blieb einen Moment sitzen, seufzte dann und Г¶ffnete ihre TГјr. Letztlich waren sie Partner. Sie arbeiteten zusammen. Auch wenn Zoe keineswegs glaubte, dass dies hier notwendig war, sollte sieВ  ihre Partnerin trotzdem unterstГјtzen.

Also wГјrde sie das auch tun.

Sie holte Shelley, die so schnell wie möglich über den Campus ging, einige Minuten später ein. Eine knisternde Energie ging von der anderen Frau aus, eine Wut, die sich wie die Borsten eines Stachelschweins aufsträubte. Für Zoe war es eine bekannte Reaktion. Sie rief oft Wut bei anderen hervor, häufig ohne zu wissen, was sie falsch gemacht hatte.

Diesmal wusste sie es wenigstens.

„Ich akzeptiere deine Spur“, sagte Zoe. „Wenn du das Gefühl hast, dass wir durch den Jungen was herausfinden, dann stehe ich hinter dir.“

Shelleys Schritte strauchelten ein wenig, bevor sie wieder ihren Kurs aufnahm. „Danke“, sagte sie, ein wenig zu steif. Zoe begriff, dass sie immer noch aufgebracht war, aber warum? Sie hatte Shelley gegeben, was sie wollte, oder?

Solche Fragen würden später, oder vorzugsweise gar nicht, geklärt werden, denn sie waren vor einem Wohnblock am Rand des Campus angekommen. Shelley hatte die Kartenapp auf ihrem Telefon geschlossen, was Zoe zeigte, dass sie wohl da waren. Die aus den Fenstern dröhnende Musik, selbst wenn diese geschlossen waren, lag über der im Gesetz zur Ruhestörung festgelegten Grenze für im öffentlichen Raum hörbare Lautstärke . Das merkte sie auch hier draußen auf der Straße sofort.

Ein Collegestudent, vom Aussehen her höchstens neunzehn Jahre alt, taumelte aus der Tür, als sie sich näherten. Er hatte einen roten Becher in seiner Hand und hantierte mit einer Zigarette. Als er aufblickte und die beiden Frauen auf sich zukommen sah, weiteten sich seine Augen zu fast komischer Größe. Die dreißig Milliliter Flüssigkeit in seinem Becher wurden über seine Schulter ausgekippt, landeten auf einigen Büschen,und er ging schnell weg, umklammerte den jetzt leeren Plastikbehälter, als ob sein Leben davon abhing, diesen von ihnen fernzuhalten.

„Party“, sagte Zoe, erkannte die Anzeichen.

Shelley holte ihr Telefon wieder hervor und brachte eine Fotografie von Jensen Jones auf den Bildschirm, die von seiner Collegeanmeldung stammte. Er war jung, hatte ziemlich regelmäßige Gesichtszüge. Braune Haare, breite Nase, braune Augen. Überhaupt nichts Auffälliges.

Was angesichts von Shelleys nächsten Worten ungünstig war. „Wir müssen unsere Augen nach ihm offenhalten. Ich nehme an, die meisten von ihnen werden sich verteilen und wegrennen, sobald wir da sind. Wir sehen offensichtlich nach FBI, oder zumindest Polizei, aus. Wir müssen ihn vielleicht erwischen, während er versucht, abzuhauen.“

„Er gibt eine Party direkt nachdem er zwei Leute ermordet hat?“ fragte Zoe. „Würde man das wirklich als normale Reaktion betrachten?“

„Nicht normal, nein, aber es ist vorgekommen“, sagte Shelley. „Ich könnte einige Fälle nennen, aber es wahrscheinlich effizienter, wenn wir ihn uns greifen und es abklären.“

„Nach dir“, schlug Zoe vor und deutete auf die Tür.

Shelley holte tief Luft, als ob sie sich Kraft gab, nickte dann. „Gehen wir.“

Hinter der Tür des Wohnblocks war der Lärm wesentlich lauter. Es komplizierte ihre Suche, dass es alleine im Erdgeschoss drei offene Türen gab – die Bewohner jeder Wohnung öffneten ihre Privatbereiche, um Teil der Party zu sein. Diese hatte sich über den Flur ausgedehnt, die Treppen hinauf und – wenn man von der Vielzahl an Teenagern ausging, die sich in alle Richtungen bewegten – durch jede Wohnung des Gebäudes.

Zoes und Shelleys Erscheinen wurde nicht sofort bemerkt. Einige Studenten sahen sie und schoben sich an ihnen vorbei die Tür hinaus, wollten sich zweifellos so weit wie möglich von den Schwierigkeiten entfernen.

Aber dann passierte das Schlimmstmögliche: einer der jungen Leute, ein sportlicher 1,80 m großer Kerl mit der Figur eines Quarterbacks, rief panisch aus: „Die Bullen sind hier!“

Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Buschfeuer im Gebäude und Panik setzte ein. Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, inkognito zu bleiben. Zoe griff nach ihrer Marke in der inneren Tasche und schwenkte sie durch die Luft. „FBI. Diese Party ist zu Ende! Jetzt!“

Die Wirkung setzte umgehend und spГјrbar ein. DreiГџig Studenten rannten rasch hintereinander an ihr vorbei, alle aus den Zimmern der unteren Wohnungen. Oben verbreitete sich die Nachricht ebenfalls und Leute polterten hinunter, verschГјtteten ihre Biere auf dem Teppich, als sie stolperten und torkelten.

Zoe wartete in der Halle, während Shelley nacheinander in alle drei Erdgeschosswohnungen ging, dadurch noch mehr Studenten durch die Gegend jagte. Sogar von ihrem Standort aus, an dem sie keinen Versuch machte, einen der an ihr vorbeirennenden Studenten aufzuhalten, konnte Zoe erkennen, dass Chaos herrschte. Zerknüllte rote Becher, heruntergefallenes Essen und verschüttete Getränke und zweifellos der gelegentliche Fleck Erbrochenes bedeckten jede sichtbare Oberfläche. Es war eine große Sache gewesen – die legendäre Art Party, von der die jungen Leute noch monatelang redeten. Zu schade, dass sie es beendet hatten.

Zoe konnte nicht behaupten, dass sie eine Art deplatzierte Nostalgie fühlte. Sie war selten zu irgendwelchen Partys eingeladen worden und hatte noch seltener an ihnen teilgenommen. Damals, wie jetzt, war diese Art Party zu überfordernd. Der Lärm, die Leute überall, die Trunkenheit und Verführung des verbotenen Alkohols – und, wenn man nach den Gerüchen ging, auch anderen Substanzen.

Auch mit dem Vorteil zusätzlicher Jahre der Erfahrung konnte Zoe nicht mehr tun, als sich auf die Gesichter jener zu konzentrieren, die an ihr vorbeirannten. Sie verglich jedes davon mit dem jungen Kerl auf dem Foto, aber   obwohl mehrere ihm sehr ähnlich sahen, war keiner von ihnen der echte Jensen Jones. Sie fühlte sich wie ein Stein in der Mitte eines Flusses, der von der Strömung umspült wurde. Es gab reichlich interessante Dinge, die ihr ins Auge fielen, Winkel und Figuren und Zeichen, aber sie rasten so schnell vorbei, dass sie sie kaum registrieren konnte, bevor sie weg waren.

Shelley kam kopfschüttelnd aus dem dritten Zimmer. Zoe richtete ihre Augen wieder auf die Treppen, gerade rechtzeitig, um jemanden dort herunterlaufen zu sehen. Eine junge Frau, die eine Sammlung von zwölf zusammengebundenen Flaschenverschlüssen um den Hals trug, welche gegeneinander klapperten, während sie lief–

„Da!“ rief Shelley.

Zoe riss ihre Aufmerksamkeit zu spät von dem Mädchen los, sah nur eine verschwommene Gestalt an sich vorbeilaufen. Angesichts der Richtung, in die Shelley zeigte, wusste Zoe, dass es ihr Mann gewesen sein musste. Sie fluchte leise – er war schon durch die Türe.

Sie drehte sich um und raste ihm nach, behielt ihn im Blick, während er weglief. Er war 1,78 m groß, athletisch gebaut, die Muskeln spannten sich leicht in seinen Waden an, während seine Arme hoch und runtergingen. Jung, in Form und offensichtlich ein erfahrener Läufer.

Zoe hatte kaum fГјnf Schritte gemacht, bevor sie wusste, dass sie ihn auf gar keinen Fall erwischen wГјrde.

In ihrem Kopf breitete der Campus sich wie eine Landkarte aus, Topographie und Neigungswinkel inklusive. Er schlängelte sich links davon, in Richtung einer Gruppe kleiner Gebäude, die am Rand des Campus verteilt waren. Hinter ihnen befand sich ein Zaun, der die Grenze zwischen dem College und der umgebenden Stadt zu markierte.

Zoe dachte schneller als sie rennen konnte. Sein Weg würde notwendigerweise gewunden sein, dem Verlauf des Zaunes folgend, bevor er eine Lücke und einen Fußgängerdurchgang erreichte. Dies auch nur, falls er seinen Studentenausweis bei sich hatte, der ihres Wissens an diesem Punkt, wie auch an weiteren Collegeeinrichtungen, für den Ausgang notwendig war.

„Bleib an ihm dran!“ schrie sie über ihre Schulter, sah Shelley aus dem Augenwinkel, während sie selbst rechts abschwenkte. Bei dieser Geschwindigkeit würde er sie immer abhängen. Aber sie konnte in der gleichen Zeit eine kürzere Entfernung überqueren und wenn sie seine Meilen pro Stunde mit ihren verglich, wusste sie, dass sie ihn beim Durchgang erwischen konnte.

Aber nur, wenn sie einen offenen Hof in direkter Linie überquerte, dann einen engen Weg zwischen zwei Gebäuden nahm und dann direkt über den dahinterliegenden Parkplatz lief.

Nur, wenn niemand ihr in den Weg geriet.

Zoe bewegte Arme und Beine stärker, wurde schneller, selbst als sie dachte, sie hätte ihre Grenze erreicht, kämpfte gegen die kalte Nachtluft, die in ihre Lungen strömte. Es geschah dieser Tage nicht oft, dass sie sich einer wirklichen sportlichen Herausforderung stellen musste. Und sie war nicht so jung wie er. Aber sie trieb sich zum Äußersten, hatte vor, verdammt sicherzustellen, dass sie rechtzeitig dort sein würde – selbst wenn es auf ihrem Weg ein Hindernis gab.

Der Hof flitzte verschwommen vorbei, dann schoss sie durch den engen Weg, zum GlГјck war dort niemand, der ihr vor die FГјГџe stolpern konnte. Der Boden unter ihr wurde zum harschen, holprigen Asphalt, bestrafte ihre FГјГџe dafГјr, dass sie normale Schuhe anstelle von Turnschuhen angezogen hatte.

Zoe konnte den Zaun auf der anderen Seite der Gebäude immer noch nicht sehen, aber sie konnte den Durchgang sehen. Ein weiterer Schwung Adrenalin ließ sie vorwärts hasten. Wenn sie nicht rechtzeitig ankam…




KAPITEL ACHT


Sie durfte keine Zeit verlieren. Zoe gab zum Abschluss noch einmal alles, zwang ihren Körper über seine normale Belastungsgrenze hinaus.

Zoes Herz hämmerte im gleichen Takt wie ihre Füße auf dem Parkplatz und sie wurde zu einem abrupten Anhalten gezwungen, als ihr Körper mit einem anderen zusammenstieß. Sie streckte instinktiv die Arme aus, um ihn zu ergreifen und drückte Jensen Jones gegen den drei Meter hohen Zaun, so dass er seine Körpermasse nicht zur Flucht nutzen konnte.

Shelley erreichte sie schon in wenigen Augenblicken. Sie war völlig außer Atem und rot im Gesicht, Haare hatten sich aus ihrem Chignon gelöst, aber sie war da. Sie half Zoe dabei, ihm mit Handschellen die Hände hinter dem Rücken zu fesseln, während sie Warnungen über die Flucht vor Strafverfolgungsbehörden und ihr Recht, ihn zu befragen hervorkeuchten. Er ließ nur den Kopf hängen, versuchte selbst, wieder zu Atem zu kommen.

Zoes ganzer Körper fühlte sich an, als ob er aufgewacht wäre. Luft und Licht hatten ihre Gelenkzwischenräume angefüllt, das Strecken seit langem ruhender Muskeln fühlte sich wundervoll an. Natürlich hatte sie auch Schmerzen, besonders in ihren Knöcheln, die das Gerüttel über den Parkplatz keineswegs genossen hatten. Im Ganzen aber fühlte sie sich phantastisch. Es war ein besonderes Gefühl, den Wind in den Haaren zu spüren, während man gegen jemanden um die Wette rannte – und gewann.


***

Nun, da der Wohnblock abgesehen von ihr, Shelley und Jensen leer war, fühlte er sich für Zoe anders an. Die Gäste hatten sich in alle Winde zerstreut, die Bewohner mit ihnen. Sie legten es zweifellos auf glaubhafte Bestreitbarkeit an.




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